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Wie die Geusen zum Entstehen Belgiens und der Niederlande beitrugen

In seinem Werk „In Opstand! De geuzen in de Lage Landen, 1565 -1578” zeichnet der belgische Historiker Pieter Serrien das Wirken des protestantischen Aufstands im Zeitalter der spanischen Herrschaft nach

Von Michael Stabenow

Ein Blick auf die aktuelle politische Landkarte wirft oft mehr Fragen als Antworten auf. Das gilt auch für die heutigen Nachbarländer Belgien und Niederlande. Eine entscheidende Phase für die spätere Herausbildung beider Staaten fiel in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts mit der 1556 nach dem Tod von Kaiser Karl V. vollzogenen Trennung der spanischen und österreichischen Stränge des Habsburgerreiches. Unter seinem Sohn Philipp II. und dessen Statthaltern in den Niederlanden sollte ein halbes Jahrhundert nach der Reformation die Grundlage für das heutige staatliche Gefüge im Nordwesten Mitteleuropas gelegt werden.

In der Geschichtsschreibung weniger beachtet wird zuweilen die Rolle, die in der Zeit der spanischen Schreckensherrschaft den sogenannten Geusen zugekommen ist. Es handelte sich dabei um eine wachsende Gruppe aufständischer Edelleute, die sich in den Bann des Protestantismus gezogen fühlten und stets mehr, keineswegs nur dem Adel entstammende Mitstreiter fanden – vom heutigen Nordfrankreich bis nach Ostfriesland. Der belgische Historiker Peter Serrien hat in seinem 624 Seiten umfassenden Buch unter dem Titel „In Opstand! De geuzen in de Lage Landen, 1565-1578” die Geschichte des vielschichtigen Aufstands ebenso detailliert wie spannend nachgezeichnet und eingeordnet.

Serrien, Jahrgang 1985 und Autor verschiedener Werke über den Ersten und Zweiten Weltkrieg, stützt sich auch in seiner Darstellung der ersten Jahrzehnte der Spanischen Niederlande stark auf Quellen wie Tagebücher, Briefe und andere überlieferte Aussagen aus der damaligen Zeit. Herausgekommen ist eine trotz gelegentlicher Detailverliebtheit verständlich und anschaulich geschriebene Schilderung der Entwicklung eines von Valenciennes bis nach Emden reichenden Raums. Das Buch enthält neben einem Stammbaum der Geusen auch einen nützlichen Überblick mit biographischen Angaben zu den damaligen Hauptakteuren.

Ausgangspunkt ist ein von Serrien nacherzähltes Treffen vier junger Männer im August 1565 in der wallonischen Bäderstadt Spa. Mit von der Partie waren damals der 1537 in Brüssel geborene calvinistische Adelige Jan van Marnix und der fast gleichaltrige, im lutherischen Glauben erzogene Ludwig von Nassau-Dillenburg. Er war ein jüngere Bruder von Wilhelm von Oranien, seit 1559 Statthalter von Philipp II. in den niederländischen Grafschaften, Holland, Zeeland und Utrecht. Der 1533 im heute hessischen Dillenburg geborene Hochadelige Wilhelm von Oranien sollte in den Niederlanden eine stets wichtiger werdende Rolle übernehmen und später, nach der Gründung der nördlichen „Republik der Vereinigten Niederlande“ im Jahr 1581 als „Vater des Vaterlands“ in die Geschichte eingehen.

Das Treffen in Spa wertet Serrien als Keimzelle für jene Bewegung von Adeligen, die im April 1566 der Statthalterin Margarethe von Parma, Halbschwester von Philipp II., unter Führung des Brüsseler Adeligen Hendrik van Brederode eine Bittschrift mit der Forderung nach Beendigung der Inquisition und Wiederherstellung ihrer Standesrechte überbringen sollten. Die Reaktion der Statthalterin fiel, folgt man Serrien, keineswegs ablehnend aus. Sie stellte in Erwartung der offiziellen, in Spanien vorgegebenen Marschroute, Mäßigung in Aussicht, die freilich auch erwidert werden müsse.

Serrien zitiert aber auch den im Dienst der Statthalterin stehenden Karl von Berlaymont, der ihr bei der Ankunft der Bittsteller sinngemäß zugeraunt haben soll: „N´ayez pas peur, Madame, ce ne sont que des gueux“ (Seien Sie unbesorgt, Madame, es sind nur Bettler). In der Praxis breitete sich der Protest gegen das brutale Vorgehen der spanischen Obrigkeit  gegen Andersgläubige im Lande rasch aus wie ein Lauffeuer. An vielen Orten kam es, oft unter freiem Himmel, zu protestantischen „Heckenpredigten“. Es folgten gewalttätige Übergriffe und das, was später als „Bildersturm“ auf die Gotteshäuser in die Geschichte eingehen sollte.

Eine neue Stufe der Eskalation der Gewalt folgte 1567 mit der Ernennung des Herzogs von Alba, Fernando Álavarez de Toledo y Pimentel, zum Statthalter in den Niederlanden. Die Geusenbewegung breitete sich zunächst im westlichen Flandern, in Tournai sowie insbesondere dem im heute zu Frankreich gehörenden Valenciennes aus. Das Gegenstück zu den dortigen „Waldgeusen“ waren die in den heutigen nördlichen Niederlanden nicht zuletzt als Seeräuber Angst und Schrecken verbreitenden „Wassergeusen“.

Präzise schildert Serrien, wie es immer wieder zu Rückschlägen für die Aufständischen kam und wie Wilhelm von Oranien, der Loyalität gegenüber der spanischen Herrschaft zunächst noch strikt verpflichtet, immer mehr in die Rolle des Anführers der Aufständischen hineinwuchs. Anschaulich beschreibt er die Hauptakteure wie den in Brüssel geborenen „Großen Geusen“ Hendrik van Brederode und dessen nicht minder impulsiven Neffen Lumey, der wegen seines Kopfschmucks auch als „Fuchsschwanz“ („Vossenstaart“) bezeichnet wurde.

Eine Schlüsselrolle – als calvinistischer Vertrauensmann des oft zögerlichen Wilhelm von Oranien – weist Serrien Filips van Marnix („Sint-Aldegonde“) zu, dem jüngeren Bruder des 1567 in einer Schlacht bei Antwerpen gefallenen Jan van Marnix, einem der Geusen der ersten Stunde. Filips fehlt an fast keinem der für diese Zeit entscheidenden militärischen und diplomatischen Orte.

Obwohl Serrien am Ende des Buches seine Sympathien für das Wirken der Geusen offenlegt, lässt er doch keinen Zweifel daran, dass die Brutalität keineswegs auf die spanischen Herrscher und ihre oft aus deutschen Söldnern gebildeten Schergen beschränkt waren. Folter, öffentliche Hinrichtungen und gnadenloses Abschlachten von Gegnern gehörten damals zur Tagesordnung.

Die politische Landkarte der Niederlande wurde damals in sehr kurzen Abständen neu gezeichnet. Die Aufständischen hatten ihre Hochburgen im Norden der heutigen Niederlanden, die damals mit der noch nicht abgedeichten Zuiderzee (dem heutigen Ijsselmeer) eine ganz andere natürliche Gestalt hatten. Interessanterweise fiel Amsterdam erst sehr spät unter protestantische Herrschaft. Stark vertreten waren die Geusen in den siebziger Jahren des 16. Jahrhunderts auf den Inseln der heutigen Provinz Zeeland sowie – bis zu den Niederlagen gegen die Truppen von Alessandro Farnese, dem Sohn von Margarethe von Parma, Mitte der achtziger Jahre – als sogenannte Stadtgeusen in Brüssel, Gent oder auch Antwerpen.

Da das Geld auf beiden Seiten knapp geworden war und sowohl die damals ungewöhnlich kalten Winter als auch die regelmäßig auftretende Pestepidemien ihren Tribut gefordert hatten, schien der Zeitpunkt für einen tiefen Einschnitt gekommen zu sein. Mit der „Genter Pazifikation“ schienen sich 1576 alle 17 niederländischen Provinzen geeint im Widerstand gegen die spanische Herrschaft wiederzufinden.

Der Schein erwies sich jedoch als trügerisch. Anfang 1579 kam es zum Bruch. Mit der „Union von Arras“ und der „Union von Utrecht“ gingen der überwiegend protestantisch geprägte Norden und der wieder vollständig unter katholischen Einfluss geratene Süden der Spanischen Niederlande fortan – und bis zum heutigen Tage – getrennte Wege.

Die Errungenschaft der durch die Aufständischen herbeigeführten und akribisch beschriebenen Umwälzungen lautet für Serrien: „Ihr größter Nachlass? Die Idee dessen, was die Niederlande waren: das Land der Geusen, die für ihre Unabhängigkeit, Freiheit und Identität stritten.“ Das ist für Serrien freilich nur die eine Seite der Medaille. So bescheinigt er den aus allen Teilen der damals noch spanischen Niederlande gekommenen Aufständischen andererseits: „Die Geusen waren diejenigen, die die Niederlande verbanden und auseinanderzogen.“

Pieter Serrien, In Opstand! De geuzen in de Lage Landen, 1565 -1578, Uitgeverij Horizon, Antwerpen, 2022, 624 Seiten, 34,99 EUR; ISBN 978 94 641 0318 2

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