In seinem bewegenden Buch „Föhrenwald, das vergessene Schtetl“ zeichnet Alois Berger, der lange Zeit in Brüssel gelebt hat, ein Kapitel deutsch-jüdischer Nachkriegsgeschichte in seiner bayerischen Heimat nach
Von Michael Stabenow
Wolfratshausen ist eine südlich von München gelegene Kleinstadt, die selten für Schlagzeilen sorgt. Bekanntester Bewohner ist der ehemalige bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber. Wer über die Jahre die Entwicklung der Europäischen Union verfolgt, begegnet als Leser oder Zuhörer immer wieder einmal einem anderen Wolfratshauser: Der Journalist Alois Berger ist dort 1957 geboren und aufgewachsen, ehe es ihn beruflich unter anderem nach Saarbrücken, Berlin, Bonn sowie für mehr als 15 Jahre nach Brüssel zog.
Ein Zufall wollte es, dass Berger 2017, für ihn völlig überraschend, zu seinen geographischen Wurzeln zurückkehrte. Aus einem Zeitungsartikel hatte er erfahren, dass im Wolfratshauser Ortsteil Waldram eine Erinnerungsstätte entstehen sollte. Erst zu diesem Zeitpunkt erfuhr Berger zu seinem großen Erstaunen, dass dort, wo er einst zur Schule gegangen war, zwölf Jahre lang, von 1945 bis 1957, eine Siedlung namens „Föhrenwald“ mit zeitweise fast 6000, ihrem elenden Schicksal in der Nazi-Zeit nur mühsam entkommenen jüdischen Bewohnern bestanden hatte.
Berger begab sich auf Spurensuche – Spuren der Entstehung der Siedlung sowie der Geschichte von Menschen, die nicht weit von seinem Elternhaus entfernt gelebt hatten. Er sprach mit früheren Bewohnern Föhrenwalds, reiste nach Israel, stöberte in Archiven und fragte Historiker aus. Herausgekommen ist das Buch „Föhrenwald, das vergessene Schtetl“ – ein bewegendes Buch, das die Leser auf eine wechselvolle Reise in die Vergangenheit mitnimmt und sie zum Nachdenken anregt.
Berger zeichnet nicht nur die Geschichte Föhrenwalds und seiner überwiegend aus einem „Schtetl“ Ostmitteleuropas gekommenen und meist jiddisch sprechenden Bewohner nach. Er wirft auch eindringlich die Frage nach dem Umgang mit dem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte und ihren Folgen auf.
Schon in der Einleitung des Buchs gibt Berger preis, es sei ihm nun bewusst geworden, dass er seine Jugend „in einer fast kitschigen Theaterkulisse“ mit verschneiten Bergen und glasklarem Wasser sowie malerischen Dörfer verbracht habe. Sein Empfinden habe sich schlagartig geändert, als er erfahren habe, „dass mitten in dieser friedlichen Landschaft ein blinder Fleck war, eine sehr große undurchsichtige Leerstelle, über die nie geredet worden war“.
Die Leerstelle füllt Berger anschaulich mit detaillierten Beschreibungen – beginnend mit der Entstehungsgeschichte der 1939 unter nationalsozialistischer Herrschaft für Arbeiter von zwei Munitionsfabriken vor den Toren Wolfratshausens erbauten Siedlung. Dort fanden nach dem Zweiten Weltkrieg, wie in anderen Teilen Deutschlands, Holocaust-Überlebende eine neue Bleibe. Zwölf Jahre lang bestand Föhrenwald mit eigenen Schulen, Synagoge, Handwerksbetrieben, Sportvereinen.
Zu den Persönlichkeiten, die einige Zeit in Föhrenwald verbrachten und denen später in Israel wichtige Rollen zukamen, zählten der ultraorthodoxe Oberrabbiner Yekusiel Yehuda Halberstam und sein damaliger, durch den Zionismus von Theodor Herzl inspirierter Gegenspieler Gedalyahu Lachman. Für diesen stand weniger die Religion, sondern ein eigener Staat für die Juden im Vordergrund. Viele der Kämpfer des neuen Staats wurden, wie Berger beschreibt, im Lager Königsdorf unweit von Föhrenwald ausgebildet.
Das Kapitel Föhrenwald endete 1957, als die Siedlung von einer katholischen Einrichtung übernommen und in Waldram umbenannt wurde. Sie bot nicht zuletzt Flüchtlingen aus dem Sudetenland eine neue Heimat. Alois Berger richtet den Blick auf die Zeit davor, auf Föhrenwald. Ausführlich lässt er frühere Bewohner ihre Erlebnisse schildern. Spannend sind die Berichte über Besuche bei ehemaligen Föhrenwäldern in Frankfurt, Berlin, Tel Aviv oder auch, wie in einigen Fällen, bei Rückkehrern aus Israel nach Deutschland.
Gewissenhaft ordnet der Autor die Erlebnisse der Föhrenwälder in den geschichtlichen Rahmen ein. Dies gilt zum Beispiel für dem Kampf weißrussischer jüdischer Partisanen gegen die Nazi-Gewaltherrschaft oder das Elend der von Südfrankreich nach Haifa und auf britischen Befehl wieder zurückgeschipperten „Exodus“-Flüchtlinge.
Berger erinnert auch an den 1922 vom damaligen Völkerbund ergangenen Auftrag an Großbritannien, „die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk“ zu ermöglichen, aber auch die gleichzeitigen, taktisch motivierten Bestrebungen Londons, den arabischen Palästinensern eine staatliche Unabhängigkeit in Aussicht zu stellen. Dies hilft bei der historischen Einordnung – auch vor dem Hintergrund der aktuellen kriegerischen Auseinandersetzungen im Gaza-Streifen und darüber hinaus.
Was Berger intensiv beschäftigt, ist die Frage, warum Föhrenwald jahrelang neben Wolfratshausen existieren und dann vergessen – oder verdrängt – werden konnte. In seiner Jugend sei auch in seiner Familie niemals die Rede von Föhrenwald gewesen. Ähnliches galt auch für die meisten seiner ehemaligen Schulkameraden, die Berger bei seinen Recherchen befragt hat. So stehen, nicht nur für den Autor, viele Fragen zu Krieg und Nachkriegszeit an die Generation der Eltern im Raum: „Was habt Ihr zu dieser Zeit getan? Wo wart Ihr? Wie standet Ihr zum Nationalsozialismus? Was habt Ihr mitbekommen und warum habt ihr den Juden nicht geholfen?“
Auch bei seinem ehemaligen, inzwischen mehr als 100 Jahre alten Schuldirektor in Waldram, wurde Alois Berger nicht richtig fündig. Warum habe er damals nichts von den Föhrenwalder Juden erzählt? Die Antwort des Schuldirektors lautete: „Da muss ich mir selbst an die Brust klopfen, ich hätte das zum Thema machen müssen und weiß nicht, warum ich das nicht gemacht habe.“
Eine plausible Erklärung für das jahrelange Verdrängen in seinem Heimatort bietet Berger an. „Das Lager Föhrenwald, das sich zwölf Jahre Tag für Tag gegen das Vergessen und Verdrängen stellte“, habe gestört. Als das Lager 1957 aufgelöst worden sei, habe es von katholischer Seite, so Zeitzeugen, geheißen, dass „in kürzester Zeit nichts mehr an die Juden erinnern“ werde.
„Katholische Judenverachtung traf sich damals mit der Sehnsucht vieler Bürger nach Ruhe im Ort“, befindet Berger. Das habe sich, nicht zuletzt dank des 2018 eröffneten Museums, geändert. Die Ausstellung verleihe den Bewohnern von Föhrenwald und Waldram Gesicht und Stimme. „Sie nimmt der bislang verdrängten Geschichte das Ungewisse und das Bedrohliche“, lautet das beruhigende Fazit. Es ist aber zugleich eine Mahnung, Geschichte nicht zu vergessen und mit ihr verantwortungsbewusst umzugehen.
Er erhebe mit seinem Buch nicht den Anspruch der Wissenschaftlichkeit, schreibt Berger. Dennoch: Mit seinen Recherchen, den vielen Augenzeugenberichten und seinen klaren und verständlichen Formulierungen trägt er zur Aufklärung bei. Er liefert auch wichtige Bausteine zur weiteren historischen Aufarbeitung.
Alois Berger, Föhrenwald, das vergessene Schtetl. Ein verdrängtes Kapitel deutsch-jüdischer Nachkriegsgeschichte, Piper Verlag, München 2023, 237 Seiten, 24 Euro (in Deutschland), ISBN 9783-492-07106-2
Alois Berger und Brüssel
Alois Berger, Jahrgang 1957, war 15 Jahre lang als Journalist in Brüssel tätig, unter anderem für die TAZ, die 2002 eingestellte Wochenzeitung „Die Woche“ sowie Rundfunkanstalten. Auch heute lässt er sich regelmäßig im Dunstkreis der EU-Institutionen blicken. Gewohnt hat Berger im Brüsseler Südosten, lange Zeit einen Steinwurf von dem Plätzchen entfernt, an dem die belgische Radsportlegende Eddy Merckx aufgewachsen ist. Als Amateurfußballer hat er mit seinem Verein fast jeden Platz in Brüssel und Umgebung erkundet. Stehvermögen bewies Alois Berger nicht nur als Journalist und als Mittelfeldmotor, sondern zum Beispiel auch, als er Tag und Nacht in einer Warteschlange in einem Brüsseler Park ausharrte, um einen Platz für seine Tochter in einer Oberschule zu ergattern.
Danke für die interessante und wichtige Buchbesprechung. Der Autor wie immer sehr informativ und gut zu lesen,
trotz der Ausführlichkeit kein Wort zu viel !