Von Michael Stabenow.
Es ist eines der Märchen, das die schönste Nebenbeschäftigung der Welt gelegentlich hergibt. Derzeit sorgt dafür ein belgischer Traditionsklub dafür, der nach Jahrzehnten wieder aus der Versenkung aufgetaucht ist. Nach dem 14. Spieltag der laufenden Saison der belgischen ersten Fußball-Liga ist passiert, was selbst eingefleischte Anhänger der Royal Union Saint-Gilloise allenfalls erträumt haben.
Der 1897 gegründete Traditionsklub aus dem Brüsseler Südwesten, der elf Mal, zuletzt freilich 1935, die Meisterschaft gewonnen hat, steht souverän an der Tabellenspitze. Vier Punkte beträgt derzeit der Vorsprung auf den amtierenden Meister FC Brügge sowie auf Royal Antwerp FC.
Zuletzt fegte die bei Heimspielen in den Vereinsfarben gelb und blau auflaufende Mannschaft den Konkurrenten RSC Charleroi mit 4:0 vom Platz. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Trainer Felice Mazzù, 2020 zu Union gewechselt, in Charleroi geboren ist und dort Jahrzehnte später als Chefcoach der „Zebras“ von 2013 bis 2019 außerordentlich erfolgreich gearbeitet hat.
Zwei Treffer zum Erfolg am 14. Spieltag steuerte übrigens der Spieler mit der Rückennummer 9, der Deutsche Deniz Undav, bei. Bis 2020 stand der türkischstämmige Stürmer beim niedersächsischen Drittligisten SV Meppen unter Vertrag. Der Wechsel an den Parc Duden im Brüsseler Stadtteil Forest, wo die Mannschaft im gerade einmal gut 8000 Zuschauer fassenden Stadion Joseph Marien die Heimspiele austrägt, scheint Undav bestens bekommen zu sein.
Nach seinem jüngsten Doppelpack gegen die „Zebras“ aus Charleroi kommt Undav in dieser Saison bereits auf 10 Tore – eines mehr als der ebenfalls formstarke Teamkollege Dante Vanzeir. Der 23 Jahre alte Stürmer, der beim KRC Genk das Fußballspielen erlernt hat, ist jetzt erstmals in den Kader der „Roten Teufel“, der belgischen Nationalmannschaft, berufen worden. Gemeinsam bilden Undav und Vanzeir, obwohl keiner von beiden mehr als 1,80 Meter misst, derzeit das wohl beste Sturmduo der „Jupiler Pro League“.
Väter des Erfolgs
Als Väter der jetzigen Union-Erfolgssträhne gelten Trainer Mazzù sowie Sportdirektor Chris O´Loughlin. Der gebürtige Nordire hat nicht nur beim Transfer von Undav ein glückliches Händchen bewiesen. Auch andere Stützen der Mannschaft wie Torhüter Anthony Moris und den ebenfalls vom Zweitligisten Royal Excelsior Virton im Südosten des Landes zu Union gewechselten madagassischen Nationalspieler Loïc Lapoussin konnte O´Loughlin für wenig Geld nach Brüssel locken.
Nur wenige der heutigen Spieler waren schon 2019 im Verein. Dies gilt zum Beispiel für Casper Nielsen. Den dänischen Dauerläufer im Mittelfeld hat die Zeitschrift „Voetbalkrant“ jetzt als „Metronom“ gefeiert. Zu den 2019 zum Verein gestoßenen „Urgesteinen“ zählt ferner der vom jetzigen französischen Zweitligisten USL Dünkirchen gekommene Verteidiger Ismaël Kandouss.
„Topeinkauf“ des Vereins ist zweifellos Felice Mazzù. Unter dem 55 Jahre alten Cheftrainer, dessen Vater, ein früherer Bergarbeiter, aus Kalabrien stammt, gelang Union nach 48 Jahren in der abgelaufenen Saison der Wiederaufstieg in die höchste belgische Liga. Mazzù schaffte es, aus einer Mannschaft der Namenlosen eine verschworene Gemeinschaft zu formen, die derzeit in der belgischen Liga wohl keinen Gegner zu fürchten.
Co-Trainer Karel Geraerts verriet unlängst in der Brüsseler Zeitschrift „Bruzz“ das Erfolgsrezept des Trainers: „Die Leidenschaft, mit der Felice auf einem Fußballplatz steht, ist der Schlüssel unseres Erfolgs. Bei jedem Spiel, im Training oder bei einer Übungseinheit spricht er zu den Spielern, als spielten wir ein Finale.“ Der Vielgepriesene sieht selbst als einen Erfolgsfaktor die familiäre Atmosphäre im Club und im heimischen Stadion. „Hier riecht es nach Gras, Hamburgern und Fritten“, sagte Mazzù „Bruzz“.
Titelgewinn?
Während der Trainer auf dem Erdboden des Rasenplatzes bleiben will und nach wie vor den Klassenerhalt als oberstes Ziel dieser Spielzeit propagiert, wird rings um den Parc Duden schon über einen möglichen Titelgewinn spekuliert. So wird verwiesen auf das Beispiel des inzwischen ganz von der Bildfläche verschwundenen SK Lierse, der 1996/97 sensationell belgischer Fußballmeister wurde.
Oder auf Leicester City, das ein Jahr nach dem Wiederaufstieg in die „Premier League“ zur allgemeinen Überraschung den englischen Meistertitel eroberte. Noch besser als Vorbild dürfte indes der wie Union traditionsbeladene 1.FC Kaiserslautern passen. Er gewann in der Aufstiegssaison 1997798 mit der Trainerlegende Otto Rehhagel in der Bundesliga den Titel.
Für Union kommt es jetzt bei aller Euphorie darauf an, zunächst die Qualifikation für die im kommenden Frühling anstehende Meisterrunde der vier bestplatzierten Mannschaften („Play off“) zu schaffen. An Begeisterung mangelt es dem Trainerteam, der Mannschaft und natürlich den Fans nicht. Aber die reguläre Saison mit ihren 34 Ligaspielen ist noch lang.
Immerhin sieht es derzeit stark danach aus, als könne Union zumindest dem Stadtrivalen RSC Anderlecht, der nicht weniger als 34 Mal die belgische Meisterschaft für sich entschieden hat, den Rang ablaufen. Eine Leistung dürfte Union ohnehin für lange Zeit nicht mehr zu nehmen sein: Zwischen 1933 und 1935 blieb der Verein in 60 Pflichtspielen ungeschlagen.
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