Von Michael Stabenow.
In ihrem Buch „Het verdriet van Vlaanderen“ (Der Kummer von Flandern) widersetzt sich Kristien Hemmerechts jeglicher Schönfärberei der Kollaboration im Zweiten Weltkrieg – plädiert aber dennoch für Nuancierungen.
Es war eine Zufallsbegegnung, die Kristien Hemmerechts dazu verleitet hat, knapp 350 Seiten dem heiklen Thema flämischer Vergangenheitsbewältigung zu widmen. Hemmerechts, Jahrgang 1955 und seit langem eine feste Größe der flämischen Literatur, war bei einer Theateraufführung in Mechelen einem zehn Jahre älteren Herrn über den Weg gelaufen, den sie von irgendwoher zu kennen glaubte.
Tatsächlich war jener Hein ihr vertraut aus einer vom flämischen Fernsehsender VRT im Herbst 2017 unter dem Titel “Kinder der Kollaboration” ausgestrahlten Serie. Die Serie handelt von der auch 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs kontrovers diskutierte Frage, wie und warum in Belgien viele, nicht zuletzt junge Menschen, zu Handlangern der Gewaltherrschaft während der deutschen Besetzung der Jahre 1940 bis 1945 wurden.
Die Sendereihe empfand Hemmerechts, wie sie im Eingangskapitel ihres 2019 unter dem Titel “Het verdriet van Vlaanderen” (Der Kummer von Flandern) erschienenen Werks schreibt, als regelrecht faszinierend: “Als Kind der Nicht-Kollaboration lauschte ich eifrig den Erfahrungen der anderen Seite. Ich hing an ihren Lippen.”
Herausgekommen ist eine anschauliche, zum Teil einfühlsame, aber keineswegs beschönigende Beschreibung des Schicksals zweier flämischer Familien, deren Mitglieder sich im Zweiten Weltkrieg praktisch ausnahmslos und geradezu fanatisch auf die Seite der deutschen Besatzer geschlagen haben. Außer auf Hein und dessen Zwillingsbruder Toon sowie auf Aussagen weniger noch lebender Zeitzeugen stützt sich Hemmerechts auf zahlreiche, eigenständig in verschiedenen Archiven zusammengetragene Dokumente.
Aus der heutigen Kenntnis der Gräueltaten der Nationalsozialisten und ihrer einheimischen Schergen heraus ist es unbegreiflich, wie die beiden Familien, die in dem Buch unter den Pseudonymen Van den Broecke und Verschueren firmieren, derart in den Bann der Nazis geraten konnten. Es waren ungleiche Familien: die Van den Broeckes entstammte einem Arbeitermilieu, die Verschuerens hatten es vorübergehend in der Antwerpener Diamantenwirtschaft zu einigem Wohlstand gebracht. Das Schicksal beider Familien begann sich fernab der Heimat zu verquicken. Anfang 1945 schlossen im bayerischen Bad Tölz der in der dortigen „Junkerschule“ zum SS-Mann gedrillten Henri Van den Broecke („HVdB“) und Lies Verschueren den Bund der Ehe. Sie waren die Eltern der im selben Jahr geborenen Zwillinge Hein und Toon.
Hemmerechts Buch trägt den Untertitel „Op pad met Hein en Toon: tweeling van de collaboratie“ (Unterwegs mit Hein und Toon: Zwillinge der Kollaboration). Darin schreibt die Autorin, dass für sie der Begriff der Familie nunmehr eine neue Bedeutung – die des Clans – erlangt habe. „Alle ‘Schwarzen’ betrachteten sich selbst und ihre Verwandten als Familie – ein bisschen so, wie auch die Mitglieder der Mafia eine Familie bilden“, erläutert die Autorin.
Dass Reue auch nach dem Abzug der deutschen Besatzer nicht zu den Charaktereigenschaften der Hauptfiguren gehörte, zeigt eine von Hemmerechts zitierte Nachkriegsäußerung von „Onkel Twan“, dem Onkel der Zwillinge. Er hatte es 1943 zum „Standartenführer der flämischen SS“ gebracht und sah seine Aufgabe darin, den Widerstand gegen die Besatzer zu brechen, „denn auf dem Gebiet ließen es die Deutschen arg zu wünschen übrig, so zumindest Onkel Twan“, heißt es in dem Buch.
Eine Interviewäußerung von „Onkel Twan“ wühlte Hemmerechts regelrecht auf. Dabei hatte er sich auf die nach einem Anschlag auf einen Nazi-Schergen verfügte Deportation von rund 40 Einwohnern eines flämischen Dorfes bezogen. In dem Interview erklärte „Onkel Twan“, es sei ihm bewusst gewesen, dass unter den Männern im Lastwagen einige gewesen seien, „die mit der Sache viel weniger zu tun hatten“. Darauf sei er auf den Wagen zugegangen und habe dem ihm am nächsten stehenden Mann „die Hand gereicht und gesagt: Entschuldigen Sie mich.“
Solcherlei Äußerungen trieben sie „in den Wahnsinn“, schreibt Hemmerechts und führt aus: „Entweder glaubt man an die Schuld der Menschen und lässt sie deportieren. Oder man glaubt an ihre Unschuld und lässt sie frei. Aber offenbar ist es weder das eine noch das andere. Ich muss aufhören, so geradlinig zu denken.“
Es ist einer der Schlüsselsätze des Buches. Auch an anderen Stellen schimmert die Erkenntnis durch, dass sich das dunkle Geschichtskapitel der Kollaboration, bei aller Monstrosität und Verblendung der beschriebenen Personen, nicht einfach nach Schwarz-Weiß-Mustern ordnen lässt. Zuweilen verschwimmen die Grenzen zwischen abstoßender Unmenschlichkeit und im Familienleben spürbarer Menschlichkeit.
Diesen kniffligen Aspekt herausgearbeitet zu haben, gehört zu den herausstechenden Leistungen der Autorin. Sie geht in ihrem Buch durchaus einfühlsam, mit den Erkenntnissen einer flämischen Familiengeschichte um, die sie nicht zuletzt den Zwillingsbrüdern Hein und Toon zu verdanken hat.
Kristien Hemmerechts macht keinen Hehl daraus, dass sie sich beim Verfassen des – sehr lesenswerten – Buches zuweilen auf eine emotionale Gratwanderung begeben habe. „Je mehr ich erfahren habe, desto schwieriger wurde es für mich, ein Urteil zu fällen“, schreibt sie im Schlusskapitel ihrer facettenreichen Nachbetrachtung der Kollaboration. Im nachfolgenden Satz heißt es jedoch apodiktisch: „Eines weiß ich sicher: Von Faschismus und Nationalsozialismus ist keinerlei Heil zu erwarten. Dieses Urteil fälle ich sehr wohl.“
Das Buch ist erschienen im Verlag De Geus, Amsterdam, 2019, ISBN 978 90 445 4089 5. 347 Seiten, 22,50 EUR.
Das Bühnenstück zum Buch
Eine Kritik von Madeline Lutjeharms.
Es gehört schon einiges dazu, den Inhalt des 352 Seiten langen Buches in einer einstündigen Aufführung auf die Bühne zu bringen. Daran gewagt hat sich mit Erfolg Kristien Hemmerechts, die Autorin des Buches „Het verdriet van Vlaanderen“ („Der Kummer von Flandern“) – gemeinsam mit den an der Entstehung des Werks maßgeblich beteiligten Zwillingen Hein und Toon. Rund 20 Auftritte des Trios hat es seit vergangenem Frühjahr gegeben. Weitere werden folgen.
Dem Zuschauer bietet sich eine gelungene Zusammenfassung des Buches, das sich dem schwierigen Thema der Kollaboration mit den nationalsozialistischen Besatzern während des Zweiten Weltkriegs und deren Folgen widmet. Die gut besuchte Februar-Aufführung des Bühnenstücks im flämischen Kulturzentrum Wabo, hat diesen Eindruck bestätigt. Es war eine sehr gut inszenierte, manchmal bewusst schlicht gehaltene, aber insgesamt beeindruckende, abwechslungsreiche Aufführung.
Die Zwillinge sitzen auf der Bühne, links Toon mit Cello, rechts Hein mit Saxophon, das er aber kaum benutzt – er bevorzugt eine kleine Mundharmonika. Die Schriftstellerin hält sich zunächst an der Seite auf und rückt in die Mitte, meist in den Vordergrund der Bühne, wenn sie erzählt. Die im August 75 Jahre alt werdenden Brüder tragen dann – auswendig gelernte – Textausschnitte aus dem Buch vor.
Hemmerechts berichtet eindrücklich über Ursprünge und Verwirklichung des Projekts. Während Toon und Hein zwischendurch mit einem musikalischen Intermezzo aufwarten. Zu Beginn der Vorstellung wird ein Brief von „Onkel Twan“ verlesen, der es 1943 zum „Standartenführer der flämischen SS“ gebracht hatte. Später werden per Powerpoint-Präsentation Fotos, vor allem von Familienmitgliedern, gezeigt.
Mehrfach singen die drei Darsteller. Die Brüder stimmen Marschlieder an, aber auch das im Jahr 1939 erstmals von Lale Andersen gesungene deutschen Soldatenlied „Lili Marleen”, wobei Hemmerechts und teilweise auch das Publikum einstimmen. Am Ende der Vorstellung singen die Zwillinge und Hemmerechts gemeinsam auf Deutsch das aus dem 19. Jahre stammende Volkslied “Die Gedanken sind frei”.
Dies wirkt wie das Motto des Bühnenstücks, in dem die Brüder einerseits ungeschminkt darstellen, wie ihre Eltern und viele Verwandten derart in den Bann der Nazi-Herrschaft gezogen werden konnten. Andererseits stellen Hein und Toon ihre Mutter und die Großeltern ausgesprochen positiv dar. Immer wieder, auch in der Diskussion, betonen sie, dass sie aus “einem warmen Nest” kommen.
Weitere Aufführungen:
Gerne möchte ich mich bei dieser Belgieninfo bedanken. Auf diese Weise kann unsere Geschichte in Deutschland bekannt werden. Dieses schwere Erbe lebt immer noch dort. Siehe zum Beispiel das Buch von Marlies Peters: ‘Mein Herz, mach Frieden’, in dem sie die Geschichte ihrer beiden Eltern mit nationalsozialistischen Vergangenheit beschreibt.
https://www.amazon.com/Mein-Herz-Frieden-Marlies-Peters/dp/3730815342
Vielen dank, Michael Stabenow unc Madeline Lutjeharms!
Toon