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Freiberufliche Dolmetscher sind ziemlich sprachlos

Von Michael Stabenow. 

Ohne sie läuft es im Räderwerk der EU-Institutionen nicht wirklich rund. Das Heer der Konferenzdolmetscherinnen und -dolmetscher hat dafür zu sorgen, dass das hehre Prinzip der europäischen Vielsprachigkeit nicht nur auf dem Papier besteht, sondern auch im Sitzungsalltag Bestand hat. So war es jedenfalls, bis Anfang März das Corona-Virus die Anzahl der Treffen in Kommission, Ministerrat, Parlament und einer Reihe anderer EU-Einrichtungen auf ein Mindestmaß verringert hat.

Leidtragende sind nicht zuletzt rund 1500 freiberufliche Dolmetscherinnen und Dolmetscher, die – bisher – regelmäßig für die EU-Institutionen tätig waren. Jährlich rund 100 Millionen Euro ließen sich die EU-Institutionen, die jeweils über mehr als 800 verbeamtete Dolmetscher verfügen, die Dienstleistungen der „Freien“ zuletzt kosten. Sie sorgen traditionell für gut die Hälfte aller Simultanübersetzungen in die insgesamt 24 EU-Amtssprachen.

Konflikt mit EU-Institutionen

Von einem Tag auf den anderen fanden sich die Freiberuflerinnen und Freiberufler entweder ganz ohne, aber zumindest mit deutlich weniger Einkünften wieder. Der Konflikt spitzte sich zuletzt zu. Die zuständigen Dienststellen des Parlaments (280 verbeamtete Dolmetscherinnen und Dolmetscher) und der Kommission (530 verbeamtete Dolmetscherinnen und Dolmetscher), die auch für Konferenzen des Ministerrats und anderer Institutionen wie dem Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) zuständig ist, unterbreiteten ihren freiberuflichen Mitarbeitern ein Angebot. Demnach sollen die „Freien“ einen – zurückzuzahlenden – Vorschuss in Höhe von rund 1300 Euro erhalten. Das entspricht dem Nettoverdienst für drei Sitzungstage.

Der Unmut der Betroffenen darüber ließ nicht lange auf sich warten. Ihre Dachorganisation, die Internationale Vereinigung der Konferenzdolmetscher (AIIC), wies den Vorstoß der Institutionen zurück und beklagte eine „Politik der vollendeten Tatsachen“, der die Tradition des sozialen Dialogs missachte und das Vertrauen in die Verwaltung zunichtemache.

„Für viele Kolleginnen und Kollegen sind die EU-Institutionen der einzige Arbeitgeber“, erläutert Silvia Puit Vögelin. Die spanische Dolmetscherin, die seit 2006 für die EU aus dem Deutschen, Englischen, Französischen und Italienischen in ihre Muttersprache übersetzt, gehört der AIIC-Verhandlungsdelegation an. Viele der rund 3500 bei den EU-Institutionen akkreditierten freiberuflichen Dolmetscherinnen und Dolmetscher haben sich für einen EU-Sonderstatus entschieden und unterliegen daher den steuerlichen Bestimmungen der Gemeinschaft. Die Tätigkeit für die EU-Institutionen mit ihrer üblicherweise vorhersehbaren Anzahl an Sitzungen mit entsprechendem Arbeitsaufkommen bietet im Normalfall eine verlässliche Existenzgrundlage.

Derzeit lautet die unangenehme Gleichung jedoch: „ohne Arbeit kein Einkommen“. „Unser Ziel ist es, kurzfristig den Leuten zu helfen, die durch die Coronavirus-Pandemie in eine schwierige Lage geraten sind“, sagt Puit Vögelin. Es sei unverständlich, warum die Dolmetscherinnen und Dolmetscher nicht in den Genuss einer Notfallhilfe kommen könnten, wie dies im Fall von Millionen europäischer Freiberufler der Fall sei.

Ein Treffen der AIIC-Delegation mit Vertretern der EU-Dolmetscherdienste am Donnerstag vergangener Woche soll, wie es aus der Kommission heißt, „in konstruktiver Atmosphäre“ verlaufen sein“. Auch wenn es zu gewissen Punkten Meinungsunterschiede gegeben habe, seien sich „alle Seiten der Bedeutung bewusst gewesen, den sozialen Dialog in einem konstruktiven Geist fortzusetzen“. Die angebotene Vorschusszahlung hätten die Rechtsdienste von Kommission und Parlament gutgeheißen.

Auch wenn die EU-Institutionen zusagten, den von der AIIC angeregten „Solidaritätsmechanismus“ zu prüfen, gibt sich die Interessenvertretung der Dolmetscher keinen großen Illusionen hin. „Wir glauben eher, dass es bei dem Nein und den angebotenen Vorschusszahlungen bleibt“, sagt AIIC-Unterhändlerin Puit Vögelin. Dennoch hätten viele ihrer Kolleginnen und Kollegen sich dafür entschieden, nicht auf das Angebot der EU-Institutionen einzugehen. Puit Vögelin berichtet, dass es sowohl im Kreis der verbeamteten als auch der freiberuflichen Dolmetscher spontane Hilfsaktionen, wie die Einrichtung von Solidaritätsfonds, gegeben habe.

Blick nach vorn

Von einer Rückkehr zum normalen Sitzungsgeschehen – und damit geregeltem Einkommen für die „Freien“ kann noch keine Rede sein. Die Kommission verweist zwar darauf, dass in der letzten Juniwoche mehr als 100 Treffen mit Simultanübersetzung eingeplant und Verträge an freiberufliche Dolmetscher vergeben worden seien.

Andererseits dürfte im zweiten Halbjahr nur ein Teil der üblichen Sitzungen stattfinden. „30 Prozent. Das ist das Maximum“, sagt ein deutscher EU-Diplomat. Er gibt zudem zu bedenken, dass virtuelle Sitzungen „zu höchstens 20 Prozent so gut funktionieren wie physische Treffen.“  Da es offenbar weniger Simultanübersetzungen in „kleinere Sprachen“ wie Dänisch, Lettisch oder Portugiesisch gibt, dürften darauf spezialisierte freie Dolmetscherinnen und Dolmetscher besonders benachteiligt werden.

Ziel der EU-Institutionen ist es, die Sicherheitsvorkehrungen für Dolmetscher in den Sitzungen zu verbessern. Dazu gehörten eine höhere Rotation des Personals, mehr Schutzausrüstungen sowie Plexiglasabtrennungen in den im Regelfall mit jeweils zwei Leuten besetzten Kabinen. Dabei sorgt jedoch eine Sonderregelung für Unmut bei der AIIC-Delegation. „Die Beamten können sich aussuchen, ob sie in einer Kabine mit Plexiglas arbeiten wollen oder nicht – die Freien dagegen nicht“ beklagt Puit Vögelin.

Nicht gelten lassen will sie den Einwand aus den Institutionen, dass eine Verdolmetschung bei Sitzungen aus anderen Räumen problematisch sei. Sie verwies darauf, dass am 17. Juli die Staats- und Regierungschefs erstmals seit Ausbruch der Pandemie wieder zu einem Gipfeltreffen im Europa-Gebäude zusammenkommen werden. „Dabei werden die Dolmetscher, wie bei vielen Treffen der Staats- und Regierungschefs üblich, vermutlich nicht vor Ort sein, sondern vom benachbarten Justus-Lipsius-Gebäude aus für die Übersetzung sorgen“, erklärt Puit Vögelin.

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