Von Reinhard Boest
Wer durch das Zentrum von Brüssel geht, bekommt den Eindruck, auf einer Dauerbaustelle zu sein. Das gilt vor allem für das “Herzstück” der Innenstadt, den Boulevard Anspach, sowie seine Seiten- und Parallelstraßen. Seit Jahren wird ständig irgendwo abgerissen, entkernt, renoviert oder neu gebaut.
Die Transformation zu einer Fußgängerzone zwischen Place de Brouckère und Place Fontainas ist imerhin inzwischen – fast – abgeschlossen. Es fehlt noch das neue Pflaster rund um die Börse, die ihrerseits nach mehrjährigen Renovierungsarbeiten in altem Glanz erstrahlt. Gab es anfangs noch zum Teil heftige Kritik an dem Projekt, kann man sich den Boulevard voller – meist stehender – Autos heute kaum mehr vorstellen. Ein wenig mehr Grün könnte allerdings schon sein; vor allem die weiten Flächen vor der Börse und auf der Place de Brouckère wirken kahl und kalt.
Mehrere große Bauprojekte links und rechts des Boulevards sind gerade fertig geworden oder sind in Arbeit. Das Viertel hat in der Vergangenheit stark unter einem Phänomen gelitten, für das bei Stadtplanern international der Begriff “Brüsselisierung” verwendet wird: das unkontrollierte und unpassende Einfügen von großmaßstäblichen Neubauten modernistischer Architektur in historischen Stadtteilen. Andere nennen es auch “Stadtzerstörung in Friedenszeiten”. In Brüssel gab es großflächige Abrisse ganzer Viertel schon zur Anlegung der großen Boulevards im Zentrum (um 1870) oder zum Bau der Eisenbahnverbindung zwischen Nord- und Südbahnhof (Eröffnung 1952), allerdings ohne den Bau von Hochhäusern. Diese Entwicklung trat erst vor der Weltausstellung 1958 auf, und sie hat vor allem in den 60er und 70er Jahren das Stadtbild nachhaltig verändert. Als besonders markantes Beispiel wird oft das von Victor Horta ab 1896 erbaute “Volkshaus” im Sablon-Viertel genannt, das 1965 trotz heftigen, sogar internationalen Protestes abgerissen und durch das 26-stöckige Bürohochhaus “Tour Stevens” ersetzt wurde. In diese Kategorie gehören aber auch etwa die Neubauten für die Europäischen Institutionen rund um den Schuman-Platz.
Zurück in das Anspach-Viertel: Das neue Verwaltungsgebäude der Stadt Brüssel, ein Glaspalast mit Namen Brucity, hat im Dezember 2022 seine Pforten geöffnet. Es liegt in der engen Rue des Halles, was daran erinnert, dass auch für diesen Neubau etwas Altes weichen musste. Seit 1874 standen hier die Hallen des “Zentralmarktes”, erbaut nach Plänen von Léon Suys, der auch Architekt der Börse war. Die Hallen verloren nach dem Zweiten Weltkrieg an Bedeutung und wurden zuletzt nur noch als Hunderennbahn genutzt. 1958 wurden sie abgerissen und durch ein riesiges Parkhaus nach amerikanischem Vorbild (“Parking 58”) ersetzt. Demgegenüber ist die Architektur von Brucity sicher ein Gewinn. Und vom während der Öffnungszeiten zugänglichen Dach hat man einen schönen Blick über die Stadt. Die (Vor-)Geschichte hat Frédéric Moreau im März 2023 in “The Brussels Times” detailliert aufgeschrieben.
Auch der frühere Sitz der Stadtverwaltung im “Centre Monnaie” ist seit längerem eine Baustelle. Dieses zwischen 1968 und 1971 anstelle der alten Hauptpost von 1892 entstandene, nach der gegenüberliegenden Brüsseler Oper benannte Bauwerk ist ein weiteres Beispiel der Brüsselisierung, da es nicht nur das Opernhaus, sondern auch andere umliegende Gebäude durch seine Masse dominiert. Der Brüsseler Bürgermeister Philippe Close bezeichnet es als “einen Faustschlag in das Gesicht der Stadt”. Genau wie der ehemalige “Philips-Turm” auf der anderen Seite des Boulevard Anspach war das Centre Monnaie Teil eines – glücklicherweise bald aufgegebenen – Konzepts von Hochhäusern, die sich vom Zentrum bis in des Viertel des Nordbahnhofs erstrecken sollten.
An einen Abriss des Centre Monnaie nach der Räumung durch die Post und die Stadt war allerdings von Anfang an nicht gedacht. Das Gebäude wurde an eine Gruppe von Immobilienentwicklern, darunter die belgische Firma Immobel, verkauft, die es unter dem Namen “OXY” für eine Mischnutzung umbauen wollen. Nach der Entkernung und der Beseitigung von Asbest beginnt demnächst der Wiederaufbau auf 62.000 Quadratmetern über 15 Stockwerke mit geschätzten Kosten von 300 Millionen Euro. Dieser betrifft vor allem die Struktur oberhalb des zweistöckigen Sockels, der das vor einigen Jahren renovierte Einkaufszentrum “The Mint” beherbergt. Geplant sind ein Vier-Sterne-Hotel mit 316 Zimmern, 112 Wohnungen und 40.000 Quadratmeter Bürofläche. Das Hotel soll von “The Cloud One”, der Oberklasse-Filiale der Kette “Motel One”, betrieben werden; auf der Hälfte der Bürofläche will der Energieversorger Engie seinen Hauptsitz einrichten. Über den Preis für die entstehenden Wohnungen (man rechnet mit etwa 200 Bewohnern) gibt es nach Angaben des Verkäufers noch keine Klarheit. Auch wenn sie nicht zur Luxuskategorie gehören sollen, seien sie wohl “nur für höhere Einkommen erschwinglich”. Ob auch Sozialwohnungen entstehen, an denen in Brüssel ein immer größerer Mangel herrscht, ist offen, aber ohne staatliche Unterstützung kaum zu erwarten.
Der benachbarte ehemalige Philips Tower, der von derselben Investorengruppe renoviert wurde und jetzt “Multi” heißt, ist gerade fertig gestellt und bietet Büroflächen auf 44.000 Quadratmetern. Während das ehemalige Centre Monnaie sich auch äußerlich völlig verändert, fällt beim “Multi” vor allem auf, dass die Fassade jetzt weiß ist statt wie früher schwarz.
Auch die Bebauung auf beiden Seiten der Place de Brouckère wartet auf ihre Renovierung. Das Projekt am westlichen Rand (“Brouck’R“) wird ebenfalls von Immobel betreut. Von den Gebäuden rund um das UGC-Kino stehen nur noch die von massiven gelben Trägern gestützten Fassaden und bieten einen traurigen Anblick. Geplant sind vor allem Wohnungen; die Bauarbeiten sollen im zweiten Quartal 2024 beginnen und Ende 2026 abgeschlossen sein. Und auf der gegenüberliegenden Seite wartet das alte Metropole-Hotel weiter auf seine Wiederauferstehung. Aber hoffentlich ohne die Dachwerbung wie 1960.
Bürgermeister Close ist zuversichtlich, dass Brüssel ein Symbol für eine gelungene Stadterneuerung werden kann, wenn mit diesen Projekten die Fehler der Vergangenheit zumindest ein wenig gemildert werden. Bleibt zu hoffen, dass die Investoren den notwendigen langen Atem haben. Und am unteren Ende der Fußgängerzone steht schon die nächste Großbaustelle bevor: der Palais du Midi, damit irgendwann die Metrolinie 3 auch unter dem Boulevard Anspach fahren kann.
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