Von Thomas A. Friedrich
Der Kampf um den Erhalt von Arbeitsplätzen in dem von der Schließung bedrohten Audi-Werk im Brüsseler Stadtteil Forest eskaliert. Mitarbeiter hatten Ende vergangener Woche die Schlüssel von rund 200 auslieferungsfertigen Fahrzeugen in zweistelligem Millionenwert entwendet. Die Mitarbeiter wollen damit offenbar erzwingen, dass die Geschäftsführung Klarheit über die Zukunft des Standortes schafft.
Audi sprach in einer ersten Reaktion von Erpressung und kündigte an, Anzeige erstatten zu wollen, falls die Rückgabe der Fahrzeugschlüssel nicht bis Wochenanfang erfolge. Volkswagenchef Oliver Blume hat die geplanten Sparmaßnahmen bei der Kernmarke VW unterdessen am Wochenende gegenüber der „Bild am Sonntag“ verteidigt. In Europa würden weniger Fahrzeuge gekauft. Gleichzeitig drängten neue Wettbewerber aus Asien mit Wucht in den Kraftfahrzeugmarkt. Die gesamte deutsche Autoindustrie befinde sich in einer noch nie da gewesenen Lage. Einen Kahlschlag werde es aber nicht geben. Blume betonte, man stehe fest zum Standort Deutschland.
Nach Überzeugung der Audi-Gewerkschafter in Brüssel läutet allerdings für die Produktionsstätte der Tochtergesellschaft in Forest das Totenglöcklein. Seit der jüngsten Zusammenkunft zwischen der Audi-Werksleitung und dem Betriebsrat in der ersten Septemberwoche pfeifen es die Spatzen von den Dächern: Es wird kein neues Modell als Nachfolge des einzigen im Brüsseler Audi-Werk noch produzierten Elektro-Modells Q8 e-tron geben.
Am Montagmorgen meldeten sich mehr als 100 Beschäftigte zur Frühschicht in Forest. Sie standen jedoch vor verschlossenen Toren. Nach belgischen Medienberichten knüpft Audi die Öffnung an die Bereitschaft der Belegschaft, die Arbeit wieder aufzunehmen sowie an die Rückgabe der entwendeten Fahrzeugschlüssel. Nach Angaben von Gewerkschaftern befinden sich die Schlüssel auf dem derzeit unzugänglichen Werksgelände, “Sie können mich anrufen, mit großem Vergnügen”, zitierte der flämische Rundfunksender VRT den Brüsseler Audi-Sprecher Peter D´hoore.
Bereits im Juli hatte Ingolstädter Tochtergesellschaft des VW-Konzerns mitgeteilt, dass wegen der schwachen Nachfrage nach E-Fahrzeugen die Einstellung des Produktionsstandortes Brüssel „nicht ausgeschlossen“ sei. In dem Werk waren zuletzt über 3.000 Menschen beschäftigt. Mindestens 1.500 Arbeitnehmer könnten noch dieses Jahr ihre Jobs verlieren, weitere 1.100 im nächsten Jahr. Neben den Audi-Angestellten sind laut Schätzungen belgischer Gewerkschaftskreise indirekt weitere 4.000 bis 5.000 Arbeitsplätze bei belgischen Zulieferern bedroht.
Belgiens Presse verkündet das nahende Audi-Ende in Forest. „Kein neues Modell für die Fabrik: Audi Brüssel vor ungewisser Zukunft”, titelte die im ostbelgischen Eupen erscheinende Tageszeitung GrenzEcho dieser Tage. „Audi Brüssel bestätigt: Fabrik bekommt kein Modell mehr”, meldete auch die flämische Wirtschaftszeitung „De Tijd“. Das französischsprachige Schwesterblatt L´Echo ergänzte: „Audi Brüssel wird kein anderes Modell produzieren und ernennt einen Krisen-Chef.” La Libre Belgique verkündete: „Audi Forest: Das Ende ist nahe.“ Die flämische Tageszeitung Het Nieuwsblad äußerte sich ähnlich düster: „Kein neues Modell für Audi Brüssel, es droht die Schließung.”
Keine Frage: Belgische meinungsführende Medien setzen sich kritisch mit den Wolfsburger Konzernlenkern und Verantwortlichen in der Ingolstädter Audi-Zentrale auseinander: „Müssen wir wirklich weiter vor der deutschen Geschäftsführung von Volkswagen zu Kreuze kriechen?“ Das fragt La Libre Belgique in einem Meinungsbeitrag. Belgien habe bereits beträchtliche Opfer für Audi Brüssel gebracht, sowohl sozial als auch wirtschaftlich. Aber trotz massiver Subventionen und großer Flexibilität scheine das endgültige Aus unvermeidbar. In der aktuellen Wahlkampfperiode vor den Kommunalwahlen am 13. Oktober sei die Versuchung natürlich groß, Audi Brüssel weiter zu unterstützen. Aber das wäre ein Fehler, meint der Kommentator von Libre Belgique. Gebraucht werde vielmehr eine neue nationale und europäische Industriepolitik.
Auch die flämische Zeitung Le Tijd legte in einem Kommentar den Finger in diese Wunde: Die Situation bei Audi Brüssel sei vor allem ein Symptom eines viel breiteren europäischen Problems. Im ersten Halbjahr 2024 habe die Zahl der Firmenpleiten in Flandern sämtliche Rekorde gebrochen. Und immer häufiger erwischte es auch große Betriebe. Es sei eine wahre Schockwelle, welche die europäischen Autobauer als Ganzes treffe. 2011 seien noch 28 Prozent aller Autos in Europa produziert worden, 2022 sei dieser Anteil schon auf 19 Prozent geschrumpft. „Eine Antwort auf all diese Probleme kann nur durch eine europäische Industriepolitik erfolgen“, meinte De Tijd in ihrer Analyse.
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