Von Michael Stabenow.
Am 27. Juni laufen die Sondervollmachten, die die Übergangsregierung von Sophie Wilmès vom belgischen Parlament im Rahmen der Corona-Krise erhalten hatte, aus. Damit beginnt sich das Karussell der belgischen Regierungssuche erneut zu drehen.
Es ist ein Déjà-vu-Erlebnis in der belgischen Innenpolitik. Sicherlich nicht das erste, vielleicht auch nicht das letzte in dem nicht enden wollenden Fortsetzungsroman über die belgische Regierungsbildung. Nun sind also wieder die Parteivorsitzenden der französischsprachigen Liberalen (MR), Georges-Louis Bouchez, und der flämischen Christlichen Demokraten (CD&V), Joachim Coens, am Zuge.
Mehr als sieben Wochen – vom 10. Dezember bis zum 31. Dezember, hatten die damals frischgebackenen Parteichefs das politisch verminte Gelände erkunden – bekanntlich ohne Erfolg, wie auch ihr Nachfolger als königlicher Beauftragter, Justizminister Koen Geens (CD&V). Er warf zwei Wochen später das Handtuch und beklagte sich bitterlich über einen „Eselstritt“ von Paul Magnette. Der Parteichef der französischsprachigen Sozialisten (PS) hatte zuvor ein Regierungsbündnis mit der flämisch-nationalistischen N-VA des Antwerpener Bürgermeisters Bart De Wever kategorisch abgelehnt und damit die diskreten Bemühungen des königlichen Beauftragten Geens vereitelt.
Nun also sind wieder Coens und Bouchez an der Reihe – dieses Mal verstärkt durch Egbert Lachaert, den neuen Vorsitzenden der flämischen Liberalen (Open VLD). Das Trio steht an der Spitze der drei Parteien, die das Minderheitskabinett von Premierministerin Sophie Wilmès (MR) stützen. Es erhielt zwar im März von einer breiten Parlamentsmehrheit in Kürze, am 27. Juni, auslaufende Sondervollmachten zur Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie sowie ein bis Ende September befristetes Vertrauensvotum. Die drei Koalitionsparteien stellen jedoch gerade einmal 38 der 150 Parlamentssitze.
Geht es nach den drei Parteichefs, dann werden sie, wie es in einer von Wilmès mitgetragenen Verlautbarung heißt, „versuchen, zusätzliche Partner für die derzeitige Koalition zu finden, um eine parlamentarische Mehrheit zu ermöglichen, die eine wirksame Politik der Unterstützung und des Wiederaufschwungs betreiben kann.“ Im Klartext hieße das, die Zahl der die Regierung stützenden Parlamentarier auf (mindestens)76 zu verdoppeln.
An Rechen- und Gedankenspielen dazu herrscht kein Mangel. Aber ob sie realistisch sind? Die vom Trio bevorzugte Einbeziehung von PS (19 Abgeordnete) und N-VA (24 Abgeordnete) in die Regierung gilt trotz oder gerade wegen einer Reihe von Gesprächen zwischen den Parteichefs De Wever und Magnette in den vergangenen Wochen als wenig wahrscheinlich. In einem Beitrag für die Wirtschaftszeitungen „L´Echo“ und „De Tijd“ dämpfte der PS-Vorsitzende umgehend die Hoffnungen von Coens, Lachaert und Bouchez. So schrieb Magnette zum Verhältnis von N-VA und PS: „Ultraliberal gegen sozialdemokratisch, Konföderalismus gegen europäischen Föderalismus, Klimaskepsis gegen Ökosozialismus, moralischer Konservatismus gegen Fortschrittlichkeit. Das Programm kann nur auf die Summe sich gegenseitig aufhebender Gegensätze” – also eine politische Nulllösung.
Dennoch könnte es dieses Mal trotzdem klappen. Zwei gewichtige Gründe sprächen dafür: der tiefe wirtschaftliche Abgrund, in den die Corona-Krise auch Belgien stürzt sowie die Aussicht auf vorgezogene Parlamentswahlen, von denen laut Umfragen nur die Parteien der extremen Ränder – der Vlaams Belang (derzeit 18) und die linkspopulistische PTB/PVDA (12 Sitze) – profitieren würden.
Die jüngste, zu Monatsanfang veröffentlichte Prognose der belgischen Nationalbank (BNB) deutet für das laufende Jahr auf eine realen Rückgang der Wirtschaftsleistung um 9 Prozent, eine öffentliche Neuverschuldung von 10,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) sowie einen auf 120 Prozent des BIP aufgeblähten öffentlichen Schuldenstand hin. Angesichts dieser trüben Aussichten scheint zwar die Bereitschaft gestiegen zu sein, über den eigenen parteipolitischen Schatten zu springen. Aber wie sich die Wirtschaft am besten ankurbeln lässt, da klafft das Meinungsspektrum von links bis rechts nach wie vor weit auseinander.
So scheint die Devise des Trios derzeit zu lauten: Letzte Ausfahrt 21. Juli. Bis zum belgischen Nationalfeiertag will es Klarheit über die Zusammensetzung einer künftigen Regierung schaffen, die dann nach detaillierten Koalitionsverhandlungen Ende September, wenn sich Wilmès ohnehin einem neuerlichen Vertrauensvotum im Parlament stellen muss, die Arbeit aufnehmen könnte. Zeichnen sich am 21. Juli die Konturen einer neuen Regierung nicht ab, dann, so die vorherrschende Meinung im politischen Brüssel, seien Neuwahlen im Herbst unvermeidlich.
Magnette hatte zuletzt argumentiert, bei einer Verständigung über ein Regierungsbündnis hätte die kommende Koalition immerhin gut vier Jahre bis zu der im Jahr 2024 regulären Parlamentswahl vor sich. Andererseits hatten er und der SP.A-Vorsitzende auch eine Konstellation aus Sozialisten, Christlichen Demokraten und Liberalen beider Landesteile angeregt, die nur über 71 der 150 Sitze im Parlament verfügen würde und dann von Fall zu Fall auf Unterstützung von außen – der N-VA oder den Grünen (21 Abgeordnete) – zählen müsste.
Der jetzt von sozialistischer Seite in die Debatte geworfene Begriff der „relativen Mehrheit“ ändert allerdings nichts daran, dass dieses Sechserbündnis im Parlament nur eine „absolute Minderheit“ vertreten würde. Während CD&V-Parteichef Coens mit Rücksicht auf die Mehrheitsverhältnisse in Flandern und die dort von der N-VA in einem Bündnis mit CD&V und Open VLD geführte Regionalregierung die flämischen Nationalisten möglichst in die Föderalregierung einbeziehen möchte, zeigen sich die liberalen Parteichefs aufgeschlossener gegenüber dem Gedanken an eine Minderheitsregierung. Eine Achterkoalition unter Einbeziehung der 21 Grünen, die einer neuen Regierung mit 92 Mandaten sogar eine Zweidrittelmehrheit im Parlament sichern könnten, steht dagegen derzeit nicht ernsthaft zur Debatte.
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