Aktuell, Wirtschaft

Belgien muss seinen Gas-Notfallplan aktualisieren

Von Rainer Lütkehus 

Gerade hatte die belgische Regierung am 15. Juli ihren Notfallplan verabschiedet, muss sie ihn neu konzipieren. Denn die Europäische Kommission hat in dieser Woche neue Empfehlungen für die Einsparung von Gas an die Mitgliedstaaten gerichtet, damit die EU-Wirtschaft auch bei einem drohenden Totalausfall russischer Gaslieferungen möglichst unbeschadet durch den nächsten Winter kommen kann.

Jeder EU-Mitgliedstaat soll mithilfe der empfohlenen Maßnahmen auf seinem Hoheitsgebiet die Gasnachfrage zwischen dem 1. August 2022 und 31. März 2023 um 15 Prozent im Vergleich zum Durchschnittsverbrauch der letzten fünf Jahre desselben Zeitraums reduzieren. Alle Verbraucher, Behörden, Haushalte, Eigentümer öffentlicher Gebäude, Energieversorger und Industrieunternehmen  sollen Maßnahmen zur Einsparung von Gas ergreifen. Die Mitgliedstaaten sollen ihre nationalen Notfallpläne bis Ende September aktualisieren und darlegen, wie sie das Senkungsziel erreichen wollen. Zu den Maßnahmen zählt auch die Umstellung von Gas auf andere Brennstoffe in der Stromproduktion, d.h. auch auf Uran.  Belgien hat bereits in der vergangenen Woche weitere Laufzeitverlängerungen für seine Atomkraftwerke angekündigt.

Noch sind die empfohlenen Maßnahmen freiwillig. Sollten sie jedoch von den Mitgliedstaaten nicht umgesetzt werden, will die Kommission den EU-weiten Gasnotstand ausrufen können. Dazu hat sie eine Dringlichkeitsverordnung entworfen, die die EU-Energieminister schon am 26. Juli auf einer Sondertagung in Brüssel behandeln sollen. Bei einem EU-weiten Gasnotstand könnte die Kommission die Mitgliedstaaten zu Einsparungen zwingen, auch jenseits der 15 Prozent. Länder, die kaum abhängig von russischem Erdgas sind, und dazu zählt Belgien, dürften davon kaum begeistert sein. Es bleibt also abzuwarten, ob die Verordnung wie von der Kommission vorgeschlagen tatsächlich beschlossen wird.

Belgien will seinen Nachbarn Frankreich und Deutschland zur Seite stehen

Aber Belgien sieht sich in der Lage, nicht nur seine eigene Energieversorgung  abzusichern, sondern auch seinen Nachbarländern Deutschland und Frankreich dabei zu helfen, durch den Winter zu kommen. „Wir verfügen in Belgien über ausreichend Strom und Gas“, hatte der liberale Premierminister  Alexander De Croo nach dem Beschluss über den belgischen Notfallplan am 15. Juli gesagt.

Um genügend Gas zur Verfügung zu stellen, konzentriert sich der belgische Notfallplan im kommenden Winter auf drei Schwerpunkte: die vollständige Befüllung des Speichers in Loenhout, die Maximierung des Flüssigerdgas-Angebots in Zeebrugge und neue Vereinbarungen mit Norwegen. Der Fernleitungsnetzbetreiber Fluxys soll im Falle, dass Großhändler zahlungsunfähig werden, deren Lieferverträge übernehmen.

Nach Angaben der belgischen Energieministerin Tinne Van der Straeten befindet sich Belgien im Vergleich zu Deutschland in einer relativ guten Position. Während Belgien nur vier Prozent seines Gases aus Russland bezieht, liegt dieser Anteil in Deutschland derzeit noch bei 35 Prozent. Der Gasspeicher in Loenhout sei bereits zu 70 Prozent gefüllt und könne im Winter 14 bis 18 Tage lang Verbrauchsspitzen abfangen, so die grüne Energieministerin. Mit den Pipelines aus Norwegen und Großbritannien und dem Flüssiggas-Importterminal in Zeebrugge könne Belgien auch in einem strengen Winter genügend Gas importieren, um den eigenen Bedarf zu decken. „Unsere großen Nachbarländer Frankreich und Deutschland könnten jedoch im nächsten Winter mit massiven Problemen konfrontiert werden, die sich stark auf unsere Wirtschaft und die Energiepreise auswirken würden. Und dann sollte unser Land in der Lage sein, zu helfen.“

Hilfeversprechen ist unverbindlich

Doch verbindlich ist das Versprechen nicht. Denn Belgien hat weder mit Frankreich noch mit Deutschland  eine bilaterale Gas-Solidaritätsvereinbarung getroffen. Schon seit einigen Jahren hält die Europäische Kommission die Regierungen dazu an, Abkommen mit Nachbarländern zu schließen, damit diese sich bei einem Engpass gegenseitig mit Erdgas versorgen. Doch von solchen bilateralen Vereinbarungen wurden in der EU bislang nur sechs geschlossen: Jeweils eine hatte Deutschland mit Dänemark und Österreich unterzeichnet. Die anderen kamen zwischen Estland und Lettland, Litauen und Lettland, Italien und Slowenien sowie zwischen Finnland und Estland zustande.

Solidarität ist das Leitprinzip der EU-Gasversorgungssicherheits-Verordnung („Gas SOS“) aus dem Jahre 2017. Darin ist unter anderem vorgesehen, dass ein Mitgliedstaat einem Nachbarstaat helfen muss, wenn letzterer ihn dazu ersucht, weil der seine „geschützten Kunden“ (Privathaushalte, Fernwärmeanlagen, Krankenhäuser, Not- und Sicherheitsdienste etc.) nicht mehr versorgen kann. Zur Anwendung kommen soll dies allerdings nur als letztes Mittel, und die Auflagen sind hoch. So müssen Mitgliedstaaten, die Gassolidaritätslieferungen beantragen, nachweisen, welche Maßnahmen sie ergriffen haben, um die Nachfrage im Inland zu senken. Selbst die Kommission hält die Verordnung angesichts der Erdgaskrise für unzulänglich, weshalb sie nun  die Dringlichkeitsverordnung vorgeschlagen hat.

Umstrittener Reaktor soll ein bis zwei Monate länger am Netz bleiben

Gutheißen dürfte die Kommission die Absicht der belgischen Regierung, Atomreaktoren, die eigentlich vom Netz genommen oder gewartet werden sollen, kurzfristig weiter laufen zu lassen. Denn dadurch muss weniger Gas verstromt werden.

So soll der wegen Rissen im Reaktordruckbehälter umstrittene, zwischen Namur und Lüttich gelegene Kernreaktor Tihange 2 (1000 MW), der eigentlich am 1. Februar 2023 endgültig vom Netz genommen werden sollte, bis nach dem Winter weiterlaufen. Und die für Februar geplante Wartung des Reaktors Doel 2 bei Antwerpen (433 MW) soll auf April verschoben werden. Durch sparsameren Einsatz von Kernbrennstoff könnte Tihange 2 einen oder zwei Monate länger in Betrieb bleiben, heißt es. Die Atomaufsichtsbehörde FANK soll prüfen, ob eine solche kurze Verlängerung sicherheitstechnisch möglich ist. Der zuständige AKW-Betreiber Engie hat jedoch rechtliche Einwände dagegen vorgebracht. Bereits im März hatte die belgische Regierung beschlossen, die Laufzeit der zwei jüngsten der insgesamt sieben Atommeiler im Land (Doel 4 und Tihange 3) bis Ende 2035 zu verlängern.

Allerdings steht bei der kurzen Laufzeitverlängerung von Tihange 2 und dem Wartungsaufschub von Doel 2 nicht das Einsparen von Gas im Vordergrund, sondern die Sicherung der Stromversorgung Belgiens während des Winters. Denn es gibt Schwierigkeiten in der Stromversorgung Frankreichs, mit der die Belgiens eng zusammenhängt. In Frankreich sind derzeit 28 von 58 Kernreaktoren zu Wartungszwecken abgeschaltet.

Der Übertragungsnetzbetreiber Elia geht davon aus, dass die Stromversorgungslage in Belgien deshalb im kommenden Winter noch angespannter sein wird, als sie es schon ist. Es wurde eine Taskforce eingerichtet, die sich mit Frankreich abstimmt.

Die Stromversorgung in Deutschland scheint weniger gefährdet. Aber auch dort wird eine kurze Laufzeitverlängerung der drei letzten Atomreaktoren, die eigentlich Ende 2022 vom Netz genommen werden sollen, debattiert. Die Befürworter betonen, dies würde zu weniger Verstromung von Gas führen; die Gegner dagegen verweisen darauf, dass Atomkraftwerke nur Strom liefern, aber keine Wärme. Rund sechs Prozent des Stroms in Deutschland wird noch durch Kernenergie erzeugt; in Belgien sind es 50 Prozent.

Auf jeden Fall hängen die Strompreise mit den Gaspreisen zusammen. Denn letztere bestimmen zurzeit die Strompreise an den Strombörsen. Je weniger Gas verstromt werden muss, desto geringer steigen die Strompreise.

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