Von Reinhard Boest
Vor ein paar Tagen hat Belgieninfo “ein Erlebnis im phantastischen Ambiente des Studio 4” angekündigt, das man nicht verpassen sollte: “Nutcracker Reimagined” mit dem Baltic Sea Philharmonic unter der Leitung seines estnischen Dirigenten Kristjan Järvi. Wer am vergangenen Dienstagabend dabei war, wird bestätigen können, dass das wohl eine Untertreibung war.
Wie soll man ein solches Kunstwerk aus Klang, Licht und Bewegung mit Worten beschreiben? Schon zu Beginn kann jeder sehen, dass es kein “normales” Konzert werden würde: das große Podium in sanftes lilafarbenes Licht getaucht, dann kommen die Musiker, alle in schwarzen Baltic Sea Phiharmonic-T-Shirts, nach und nach mit ihren Instrumenten aus den Türen links und rechts auf die Bühne – und spielen dabei bereits den Beginn des Programms. Zum Schluss erscheint der Dirigent, in weißen Sneakers. Anschließend setzen sich die jungen Musiker nicht etwa brav auf wohlangeordnete Stühle mit Notenständern, sie spielen im Stehen und Gehen.
Stets ist das Orchester in Bewegung, man weiß nicht, woher gleich der Klang einer Flöte oder eines Horns oder einer Violine kommen wird. Und der Dirigent unter ihnen, ein Dirigentenpult gibt es nicht. Man wird Zeuge einer ganz eigenen Choreografie, die spontan aussieht, aber natürlich intensive Proben verlangt. Es wird auch verständlich, dass das gesamte Programm auswendig gespielt werden muss. Bei der ständigen Bewegung und der zwischen Hell und Dunkel wechselnden Bühnenbeleuchtung könnte man die Partitur ohnehin nicht lesen.
Auch das Klangerlebnis unterscheidet sich völlig von dem, was ein Besucher nach Lektüre des Programms erwarten würde. Die Stücke werden nicht nacheinander “abgespielt”. Vielmehr mischen sich wohlbekannte Stücke aus Peter Tschaikowskys Nussknacker-Suite mit den Sätzen des Klavierkonzerts von Edvard Grieg (mit der Pianistin Olga Scheps) und den modernen Kompositionen von Kristjan Järvi und Arvo Pärt.
Moderne und “Klassik” gehen ineinander über, von besinnlich bis extatisch, es gibt nur noch Musik, im besten Sinne “entstaubt” – und mitreißend. Die spürbare Spielfreude, Energie und Dynamik des Orchesters und des Dirigenten überträgt sich auf das Publikum. Und so brechen nach einem knapp eineinhalbstündigen Klangstrom – unterbrochen nur kurz von einem Beifall für die Solistin des Abends – die Zuschauer in spontanen Jubel aus: sofortige standing ovations erlebt man nicht jeden Tag, schon gar nicht bei einem ‘klassischen” Konzert.
Mit der dann folgenden Zugabe, einschließlich eines Solos der Pianistin Olga Scheps, erobert Kristjan Järvi dann endgültig den nahezu vollbesetzten Saal: rhythmisches Mitklatschen des Taktes und sogar Mitsingen…
Mit dem Musikerlebnis sollten “die Zuhörer verändert aufwachen, als ob sie sich neu erfunden hätten”, lautete die Ankündigung. Und in einer kurzen Ansprache am Ende sagt Järvi: “We are making wonders”. Dem kann man nur zustimmen – und hoffen, dass Baltic Sea Phiharmonic wieder den Weg nach Brüssel findet.
Das Orchester ist aus dem 2008 im Rahmen des Usedomer Musikfestivals gegründeten “Baltic Youth Orchester” hervorgegangen. Es ist noch immer ein junges Orchester: das Durchschnittsalter seiner Mitglieder aus allen Ostsee-Anrainerstaaten beträgt 23 Jahre. Es umfasst 200 Musiker, von denen 70 bei dieser Tournee dabei waren. Am Folgetag stand ein Auftritt in der Kölner Philharmonie an – vor ausverkauftem Haus.
Und im September 2024 bestreitet das Orchester – natürlich – das Eröffnungskonzert des Usedomer Musikfestivals in der Turbinenhalle des Historisch-Technischen Museums in Peenemünde.
Bei einem anschließenden Empfang dankte der Chef der Staatskanzlei Mecklenburg-Vorpommern, Patrick Dahlemann, Kristjan Järvi und den jungen Musikern für ihren großartigen Auftritt, mit dem sie nicht nur Botschafter für die Sonneninsel Usedom, sondern für das Land Mecklenburg-Vorpommern seien, in Deutschland, Europa und demnächst darüber hinaus: es stehen Auftritte in New York und Hongkong auf dem Programm. Dahlemann betonte aber auch, dass das Orchester und die zugehörige Akademie für junge Musiker durch seine Zusammensetzung ein Projekt der Verständigung und des Friedens sei – was in den aktuellen Zeiten so wichtig sei.
Unter den Gästen waren neben dem deutschen Botschafter in Belgien, Martin Kotthaus, auch der jetzige Präsident des Parlaments der Deutschsprachigen Gemeinschaft (DG) Ostbelgiens, Charles Servaty und dessen Vorgänger Karl-Heinz Lambertz. Die DG pflegt seit der Amtszeit von Lambertz enge Beziehungen zum Landkreis Vorpommern-Rügen (vormals Ostvorpommern) und insbesondere zu Usedom.
Fotos: Alexander Mannewitz, Landesvertretung Mecklenburg-Vorpommern Brüssel
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