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Aussicht auf neue belgische Regierung – Koalitionsverhandlungen beginnen

Von Michael Stabenow.

Mehr als 15 Monate nach der belgischen Parlamentswahl ist endlich eine handlungsfähige Regierungskoalition in Sicht. Sie soll mit den Liberalen (Open VLD und MR), Sozialisten (PS und SP.A) und Grünen (Ecolo und Groen) beider Landesteile sowie den flämischen Christlichen Demokraten (CD&V) insgesamt sieben Parteien umfassen. 

Von kommender Woche an sollen die Parteivorsitzenden von Open VLD und SP.A, Egbert Lachaert und Conner Rousseau die Koalitionsverhandlungen leiten. Lachaert war Mitte August von König Philippe mit der Führung von Sondierungsgesprächen beauftragt worden, nachdem bereits ein halbes Dutzend anderer Politiker erfolglos nach möglichen Regierungsmehrheiten gesucht hatten. Lachaert warb offenbar insbesondere um die Gunst der konservativen CD&V und bemühte sich Vertrauen zwischen den Parteien herzustellen. Entscheidend für den Durchbruch bei den Gesprächen war die am Mittwoch von CD&V-Parteichef Coens bekundete Bereitschaft zu Koalitionsverhandlungen. Dieser hatte zuvor monatelang darauf gesetzt, gemeinsam mit der flämisch-nationalistischen N-VA eine Regierung zu bilden. Da auf dieser Basis jedoch schlicht keine Einigung erzielt werden konnte, habe die Partei ihre Position überdacht und sich für Gespräche über eine alternative Koalition entschieden, hatte Coens im Fernsehsender VRT den Schwenk begründet.

Zu erwarten sind nun voraussichtlich eine Reihe von Formelkompromissen, da die politischen Überzeugungen der möglichen Koalitionspartner um einiges auseinander liegen. So widersetzt sich beispielsweise die CD&V der von den anderen involvierten Parteien gewünschten Verlängerung der gesetzlichen Frist für zulässige Schwangerschaftsabbrüche von 12 auf 18 Wochen. Lachaert stellte klar, dass in dieser Frage letztlich das Parlament entscheiden müsse. Zum Beharren der Grünen auf dem vorgesehenen Ausstieg aus der Kernenergie im Jahr 2024 sagte Lachaert zwar: „Das Gesetz ist das Gesetz“. Aber er ließ zugleich erkennen, dass es bei der Erreichung der klimapolitischen Ziele für 2030 gewisse Spielräume gebe. Auch bei der Frage einer weiteren Staatsreform spielt Lachaert auf Zeit. So sollen zwei Minister federführend die für 2024 geplanten Schritte vorbereiten. Der flämische Liberale deutete an, dass die im Zuge der Coronavirus-Bekämpfung wegen des Flickenteppichs an Zuständigkeiten kritisierte Gesundheitspolitik auf die Regionen übergehen könnte – ein Zugeständnis an die CD&V. Er wiederholte aber auch die liberale Position, wonach Befugnisse wieder von den Regionen an den Föderalstaat übergehen könnten.

Entscheidend wird nun sein, wie sich die Positionen von Liberalen und Sozialisten in der Wirtschafts- und Sozialpolitik vereinbaren lassen. Die von den Sozialisten gewünschte „Reichensteuer“ dürfte an Vorbehalten der Liberalen scheitern. Sie wiederum müssen wohl Entgegenkommen bei den Ausgaben für die Gesundheitspolitik und Sozialleistungen zeigen. Eindringlich warb Lachaert jedoch dafür, rasch – möglichst 2024 – die öffentliche Neuverschuldung wieder unterhalb die EU-Obergrenze von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu drücken.

Am kommenden Freitag werden Lachaert und SP.A-Chef Rousseau dem König über den Stand der Verhandlungen berichten. Ziel ist es nach wie vor, bis zum 17. September eine Lösung zu erzielen. An diesem Tag läuft das Corona-bedingte Sondermandat der aktuellen Regierung unter Premierministerin Sophie Wilmès (MR) aus. Als mögliche Regierungschefs der avisierten Koalitionsregierung werden derzeit Justizminister Koen Geens (CD&V), der PS-Parteivorsitzende Paul Magnette sowie Finanzminister Alexander De Croo (Open VLD) gehandelt.

N-VA-Parteichef De Wever sprach von einem „Drama für Flandern“: Die neue Föderalregierung wird durch französischsprachige Parteien dominiert und spiegelt in keiner Weise das Wahlergebnis in Flandern widers. Das Wahlergebnis wird vollkommen auf den Kopf gestellt“, wurde De Wever in belgischen Medien zitiert.

Tatsächlich stellen die voraussichtlichen vier flämischen Regierungsparteien 42 von 89 Abgeordneten aus dem Nordteil des Landes: Open VLD und CD&V jeweils 12, SP.A und Groen jeweils 9. Sollte die geplante Koalition zustandekommen, wäre das Verhältnis zwischen beiden Landesteilen mit 45 französisch- und 42 niederländischsprachigen Abgeordneten nahezu ausgewogen. De Wever wird sich mit seiner Partei auf flämischer Seite dann gemeinsam mit dem rechtsradikalen Vlaams Belang und der linkspopulistischen PVDA auf den Oppositionsbänken wiederfinden.

 

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