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Anstoss in Brüssel

Von Thomas Philipp Reiter.

Kurt Deswert ist als Autor bislang eher politisch-gesellschaftlicher Veröffentlichungen wie zum Beispiel über Brüsseler Lyrik in Erscheinung getreten („Vers uit Brussel – Nederlandse gedichten uit de hoofdstad“). Dies ist vor allem dem Umstand geschuldet, dass er für die Abgeordnete Carla Dejonghe im Regionalparlament tätig ist. Drei Monate unbezahlten Urlaub hat Kurt Deswert nun genommen, um sein Buch fertigzustellen, an dem er in seiner Freizeit schon seit geraumer Zeit gearbeitet hat.

Wer ihn kennt, weiß, dass der Autor ein beinahe unerschöpflicher Quell ist für alles, was mit Brüssel und Fussballgeschichte zu tun hat. Schon deshalb ist er längst ein gefragter Vortragsreisender zu diesem Thema. Dabei verriet er auch, dass er bei überbordender Quellenlage zuletzt vor allem kürzen musste.

Und dennoch sind beachtliche 360 Seiten zusammengekommen und eine Publikation, die man inhaltlich wie in der Form getrost als „Standardwerk“ bezeichnen kann. Der herausgebende Verlag Borgerhoff & Lamberigts hat (mit Unterstützung der Region Brüssel-Hauptstadt, der flämischen Regionalregierung sowie dem Willemsfonds ein reich bebildertes, schönes Buch geschaffen, das ohne Frage für jeden Fussballfan als Weihnachtsgeschenk geeignet ist. Es gehört zur Brüsseler Realität, dass es in einer niederländischsprachigen („Aftrap in Brussel: de vergeten geschiedenis van het voetbal in de hoofdstad“) sowie in einer französischsprachigen Version („Bruxelles, balle au centre: une histoire du football dans la capitale“) vorliegt und dass die flämische Variante trotz gleichen Inhalts und gleicher Aufmachung bei Amazon teurer ist als die wallonische: 35,33 Euro zu 35,00 Euro.

Aus Fußballspielern werden Bürgermeister

Bei der Suche nach kleinen Perlen mit Bezug zum deutschen Fussball wird man fündig. So beschreibt Deswert die übergroße Freude über die „wunderbare europäische Saison“ des RWDM Brüssel 1976/77, bei der Schalke 04 mit 1:0 im Edmond-Machtens-Stadion in Molenbeek ausgeschaltet wurde. Sogar „Der Kicker“ konstatierte damals: „Ein Riesenschock“. Bremer Fans werden sich hingegen noch an den 8. Dezember 1993 erinnern, als der RSC Anderlecht eine 3:0-Führung zur Halbzeit im Weserstadion noch mit fünf Gegentreffern in der zweiten Hälfte verloren geben musste. Der Autor bezeichnet diese bestürzende Niederlage der Brüsseler als entscheidenden Wendepunkt, an dem der belgische Fussball „definitiv den Anschluss an die europäische Spitze verlor“. Ein Zustand, der für die Bremer vor knapp zehn Jahren ebenfalls eingetreten ist. Die weitere Brüsseler Fussballgeschichte mit deutschem Einfluss – wie die HSV-Erfahrungen des Lokalhelden und Nationalkapitäns Vincent Kompany oder die wirtschaftliche Rettung von Royal Union Saint Gilles durch den Kölner Kaufmann Jürgen Baatzsch – muss erst noch geschrieben werden.

Geografische Karten schaffen eine übersichtliche Einteilung der einzelnen Abschnitte, auf ein alphabetisches Register muss man indessen verzichten. Beim Durchblättern des kleinen, feinen Wälzers stößt man dann aber auch auf skurrile und spannende Fakten wie die Tatsache, dass in der Brüsseler Teilgemeinde Koekelberg gleich zwei ehemalige Nationalspieler nacheinander Bürgermeister waren: Emile Bossaert und Armand Swartenbroeks von Daring Brussel. Das Dreilindenstadion ist zweitgrößte Fussballarena Belgiens und nicht etwa Heimstätte eines Erstligisten, sondern des niedrigklassigen Royal Racing Club in Boitsfort. Die älteste Tribüne des Landes befindet sich in Uccle/Ukkel, heute ein Hockeyplatz. Und: bei der Errichtung der FIFA 1904 spielte der Brüsseler Louis Muhlinghaus eine entscheidende Rolle. Deren Niedergang hingegen spielte sich in der Schweiz ab, und das ist eine ganz andere Geschichte.

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