
Von Michael Stabenow
Seit Charles Michel Anfang Dezember das Amt des EU-Ratspräsidenten an seinen portugiesischen Nachfolger António Costa abgegeben hat, ist es relativ still um den wallonischen Liberalen geworden. Jetzt hat sich Michel, von 2019 bis 2024 EU-Ratspräsident und davor fünf Jahre belgischer Premierminister, mit einem mit Selbstlob und Nadelstichen gespickten Interview mit den belgischen Zeitungen „Le Soir“ und „De Standaard“ wieder zu Wort gemeldet. Hauptzielscheibe seiner Kritik ist, wenn auch namentlich nicht erwähnt, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
Die zwei Tage vor dem EU-Sondergipfeltreffen zur Lage in der Ukraine von der Kommission vorgelegten Vorschläge für ein neues EU-Finanzierungsistrument im Umfang von 150 Milliarden Euro, das insgesamt 800 Milliarden Euro zur Stärkung von Europas Verteidigungsfähigkeit generieren soll, nannte Michel unzureichend und „Ankündigungspolitik“. Es gehe letztlich um 150, nicht um 800 Milliarden Euro, was angesichts der erforderlichen Investitionen im großen Maßstab nicht ausreiche. „Und es kommt spät, da wir schon vor zwei Jahren die Kommission aufgefordert haben, Optionen zur Finanzierung auf den Tisch zu legen und eine demokratische Debatte zu ermöglichen“, sagte Michel.
Der belgische Politiker warf der Kommission vor, „nichts getan zu haben aus verkehrten Gründen, die wahrscheinlich mit der Verlängerung eines Mandats und Wahlen in einem anderen Land im Zusammenhang stehen“. Dies lässt sich als ein kaum verhüllter Hinweis auf die Bemühungen um eine zweite Amtszeit von der Leyens als Kommissionspräsidentin sowie auf eine angebliche Rücksichtnahme auf die Bundestagswahl und die Befindlichkeiten in Deutschland werten.
Über Jahre war das Verhältnis zwischen Michel und von der Leyen von gegenseitiger Abneigung geprägt. Ganz anders gelagert waren die Verhältnisse im EU-Viertel zwischen 2014 und 2019, als der Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und der – polnische – EU-Ratspräsident Donald Tusk hießen. Sie waren um enge Abstimmung bemüht und setzten sich oft einmal in der Woche zusammen.
Symptomatisch für die Beziehung zwischen Michel und von der Leyen war die sogenannte Sofagate-Episode bei einem Treffen der beiden Politiker mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan im April 2021 in Ankara. Da nur zwei Stühle, einer davon für den türkischen Präsidenten, bereitstanden, nahm Michel wie selbstverständlich auf dem zweiten Platz. Von der Leyen musste sich hingegen auf ein danebenstehendes Sofa setzen – was anschließend für manch böses Blut gesorgt hat.
Auch in den nachfolgenden Jahren blieb das Verhältnis zwischen den obersten Repräsentanten des Europäischen Rats und der Kommission gespannt. Während von der Leyen sich mit der Zeit immer sicherer sein konnte, eine zweite Amtszeit von fünf Jahren als Kommissionspräsidentin zu erhalten, stand fest, dass Michel seine Amtsräume bald räumen sollte. EU-Ratspräsidenten stehen maximal zwei Amtszeiten von jeweils zweieinhalb Jahren zu.
Anfang vergangenen Jahres überraschte Michel mit der Ankündigung, als Spitzenkandidat der französischsprachigen Liberalen (MR) als Spitzenkandidat bei den Europawahlen im Juni antreten zu wollen. Der Wirbel um seine Ankündigung und die Diskussion darüber, wie er die Positionen als Bewerber für einen Sitz im EU-Parlament und die Funktion des EU-Ratspräsidenten unter einen Hut zu bringen gedenke, veranlassten Michel – beleidigt – zum Verzicht auf die Kandidatur. Im Rundfunksender RTBF sagte er damals: „Ich nehme zur Kenntnis, dass verletzende Angriffe den faktischen und objektiven Argumenten immer mehr den Rang ablaufen.“
Die Michel nachgesagten Hoffnungen auf das Amt des Außenministers in der seit Anfang Februar amtierenden belgischen „Arizona“-Koalition erfüllten sich nicht. Die politische Karriere des im vergangenen Dezember gerade einmal 50 Jahre alten Ex-Ratspräsidenten schien somit in einer Sackgasse gelandet zu sein. Auch wenn Michel unlängst auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos gesichtet wurde, war es zuletzt sehr still um ihn geworden.
Jetzt meldete er sich am Tag des EU-Sondergipfeltreffens mit markigen Sprüchen in „Le Soir“ und „De Standaard“ zurück. „Ich bin überrascht, dass man über die Politik von Trump überrascht ist“, sagte er mit Blick auf europäische Reaktionen auf den neuen amerikanischen Präsidenten. Auf die Frage, ob die Vereinigten Staaten noch ein vertrauenswürdiger Bündnispartner seien, antwortete Michel: „Wenn vertrauenswürdig gleichbedeutend mit vorhersehbar ist – ja.“ Es gebe zwei Sorten von Europäern – diejenigen, die wüssten, dass es Probleme gebe, aber nichts unternähmen, sowie diejenigen, die für „mehr europäische Souveränität eintreten – so wie ich selbst und der französische Präsident Emmanuel Macron.“
Auf die Interviewfrage, wie er seine eigene politische Zukunft sehe, antwortgete Michel: „Ich habe die politische Seite umgeblättert. Mit einem großen Gefühl von Freiheit will ich mich anderen beruflichen Tätigkeiten widmen, die sich mit meinen Überzeugungen decken“. Wohin es ihn konkret hinzieht, verriet Michel nicht.
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