STREETSPACE BANGER – TICK TACK in der Kunsthalle Recklinghausen
Von Ferdinand Dupuis-Panther
In einer Rochade – dieser Begriff ist entlehnt aus dem Schachspiel für den Tausch von Turm und König – tauschen bis zum 10. November 2024 die Kunsthalle Recklinghausen und das Antwerpener Tick Tack Teile ihrer Bestände. In der Gruppenausstellung STREETSPACE BANGER finden sich Arbeiten von über 80 internationalen Künstler*innen. Zu sehen sind dabei anlässlich des fünfjährigen Bestehens von TICK TACK jene künstlerischen Positionen, die Teil des abwechslungsreichen Ausstellungsprogramms waren, das die belgische Kunstszene seit 2019 nachhaltig bereichert.
Wie der Leiter der Kunsthalle Recklinghausen Dr. phil. Nico Anklam in einem Gespräch erläuterte, sind beide Kunsträume, in Recklinghausen und Antwerpen, der Avantgarde verbunden. Er erinnerte dabei auch an die Bewegung „junger westen“. Doch die Ausstellungsflächen divergieren: 1000 m² auf drei Etagen in Recklinghausen und 100 m² auf drei Etagen in Antwerpen, hier ein umgestalteter Hochbunker nahe des Hauptbahnhofs, dort ein schmaler Glas-Betonbau gegenüber einer städtischen Grünanlage, dem Harmoniepark. Wer an künstlerische Positionen der Gegenwart denkt, denkt oftmals an Brüssel und weniger an Antwerpen, obwohl diese Stadt insbesondere in Sachen Mode ganz dem Zeitgeist entspricht und diesen auch mitbestimmt, ergänzte Dr. Nico Anklam sinngemäß.
Die Inszenierung der Ausstellung kann als niedrigschwellig charakterisiert werden. Und das beginnt schon im Eingangsbereich der Kunsthalle. Ausgelegt ist der Bereich des Foyers mit einem giftgrünen flauschigen Teppich. Ledersofas laden zum Sitzen ein. Eine Neonschrift in einem der Fenster verheißt „Open“. Ein Schlapphut und ein Trenchcoat haben auf einem Garderobenständer ihren Platz gefunden. Wer in den Mantel schaut, entdeckt einen ganz besonderen „Kunstraum“. In Glasvitrinen findet sich allerlei Kitsch und auch auf dem Tresen des Kassenraums stapelt sich Kitsch. Irgendjemand hat an einem der Sofas seine Puschen zurückgelassen. Und wieso ragt da eigentlich ein Fuß neben einer Raumstütze hervor? Vitrinen, Regale und Schließfächer zeugen von einer Sammelleidenschaft für Trödel und Trash. Unser Blick fällt auf eine Fototapete, die uns in den urbanen Dschungel von New York entführt. Auch ein Filmplakat mit dem Porträt von Marlon Brando entdecken wir.
Was soll uns eigentlich das an die Wand geschriebene Rezept für Apfelkuchen sagen? Ist der mit Muscheln beklebte Rahmen Kunst oder kann der weg? Schließlich: Wer hat eigentlich die Dose Pils im Regal stehen lassen? Die ganze Zeit fragen wir uns außerdem, wo wir eigentlich sind. Sind wir in einem skurrilen Späti der besonderen Prägung, in einer Lounge-Bar, in einer Retro-Loft, in einem Studio, in einer Studentenbude der 1970er Jahre? Jedenfalls keimt nicht der Eindruck von Kunstmuseum auf. Eher drängt sich etwas Heimeliges auf. „TICK TACK Fancy Museum Shop“ nennt Christoph Blawert die von ihm teilweise verantwortete Rauminszenierung, in der vielfältige Details zu entdecken sind.
Neugierig geht es dann weiter in den ersten Ausstellungsbereich, der in Räume mit Spiegelwänden unterteilt ist. Hier haben sich die Macher von Tick Tack Antwerpen in ihrer Kreativität weiter entfaltet, genreübergreifend. Unser Blick fällt auf ein Stillleben mit einem Fleischermesser auf einem Holzbrett. Kurz flammt im Kopf der aktuelle Bezug zu den zahlreichen Messerattacken auf, die für Schlagzeilen zwischen Berlin und Stuttgart sorgen. Doch Jakub Rehak verweigert mit seiner Arbeit den entsprechenden Bezug, nannte er sein Werk doch „Evaluation II (between kettle and sink)“. In unmittelbarer Nähe steht eine voll gepackte Sackkarre. Nein, es ist nicht das Hab und Gut eines Obdachlosen, das der Künstler Umut Yasat verschnürt hat, sondern es handelt sich um gestapelten Müll aus Papier, Stoff, Alu, Transportgurt, Haar und allerlei anderen Gegenständen, die eigentlich ihren Zweck längst erfüllt haben: Als Titel des Werks lesen wir schlicht: „Der Stapel 22“.
Ein Raum öffnet sich in einer Arbeit von Narcisse Tordoir und James Beckett. Wir sehen eine orientalisch wirkende, verschleierte Frau auf einem mit Tabak (?) beladenen Esel. Innerhalb der Darstellung öffnet sich tatsächlich eine Tür, hinter der sich Lautsprecher türmen, die den Besucher beschallen: „The absent present“. Konfrontieren uns die Künstler mit dem kulturellen Aufeinanderprallen von Tradition und Moderne, von ruralem Leben und urbaner Hektik, symbolisiert durch die Lautsprecher?
Wer sitzt denn da? Ein sumerischer Krieger oder ein Mann der hellenistischen Antike? Der Blick auf den Titel – möglich übers Scannen des QR-Code am Eingang des Ausstellungsbereiches – belehrt uns, dass der Künstler hier einen Gott „zum Leben erweckt“ hat. Merkwürdig sind die Badelatschen an den Füßen der Gottheit und die Motorradhandschuhe, die die männliche Gottheit trägt. Alexandre Bavard ist diese Skulptur zu verdanken, bei der man sich fragt, um welche Gottheit es sich eigentlich handelt. René Spitzer verweigert sich mit seiner Arbeit „Idiolect BLPK“ der klassischen Hängung in Ausstellungen. Obwohl er im Kern einen Siebdruck schuf, hat die Arbeit leicht angestellt ihren Platz auf dem Kunsthallenboden! Auch die Konzeptkunst von Sol LeWitt war für einen Künstler Anlass ein eigenes dreidimensionales Werk zu schaffen: Jason Gringler stellt „A er Sol LeWi“ zur Debatte, einen Gitterkubus mit erloschenen Kerzen. Spielen diese auf Memento mori, also auf die Vergänglichkeit an?
Während der Ausstellungsbereich im Erdgeschoss durch Dichte, durch Geschlossenheit, durch Raumenge und Raumteilungen bestimmt ist, ist die Präsentation der nächsten Etage sehr luftig. Und auch hier wird die gängige klassische Ausstellungspraxis durchbrochen, hängen doch Arbeiten an Gurtbändern mitten im Raum von der Decke. Michael Weibköppel nennt diese Werke „Floating thoughts“, obgleich man bei dem Begriff „floating“ eher an fließend und weniger an schwebend denkt. An das Konzept der stufenförmigen Archiskulptur knüpft Thomas Scheibitz mit „Helios“ an. Ein Smily mal in anderen Dimensionen, oder? Aus Wellpappe schuf Florian Baudrexel ein Gebilde namens „Enic“. „Defragmentiertes Architekturmodell oder was?“, fragt sich der Betrachter. Thomas Scheibitz’ streng lineares Werk „Omega Cinema II“ wird außerdem mit dem als gestisch-informel anzusehenden „Broken Road #8“ konfrontiert. Zu verdanken ist die Arbeit Koen van den Broek.
Den Abschluss findet die sehr sehenswerte, durchaus auch aus surrealistisch-anarchistischem Geist komponierte Ausstellung in der zweiten Etage, die weitgehend von Videoinstallation in einem abgedunkelten Raum eingenommen wird. Hier stoßen wir aber auch auf eine textile Arbeit von METAHAVEN mit dem Titel „INFRA – ULTRA“. Sally von Rosen zeigt ihre Vorstellung von „Miss Universe“. Es handelt sich um einen missgebildeten, verwachsenen Körper und nicht um das Schönheitsideal der Hochglanzmagazine von Vogue bis … . Übrigens, Adriano Amara gab seiner Glas-Stahlarbeit keinen Titel, wenn man auch einen weiblichen Torso mit langschnäbligem Kopf sieht und im Inneren der Figur tropfendes Wasser hört, sodass man durchaus den Titel Modell-Torso als angemessen empfinden könnte.
Ein kurzer Hinweis: Am 13. September eröffnet im Gegenzug bei TICK TACK in Antwerpen -gegenüber vom Harmoniepark gelegen – die Sammlungspräsentation STORAGE SPACE aus der Kunsthalle Recklinghausen, mit der sie Einblicke in ihre umfangreiche fast 5.000 Werke starke Museumssammlung erlaubt. Beliebt für einzelne Leihgaben an zahlreiche Museen weltweit, reist die Sammlung damit erstmals als kuratierte Ausstellung in das Ausland.
© Text/Fotos Anne Panther / Ferdinand Dupuis-Panther
Info: https://kunsthalle-recklinghausen.de
https://ticktack.be/exhibitions/rokade-streetspace-banger
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