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Von Paul-Henri Spaak bis Hadja Lahbib

Lahbib Adja | Foto: Außenministerium

Wie der belgische Einfluss auf die Europapolitik dahingeschwunden ist

Von Michael Stabenow

Belgien beherbergt nicht nur die meisten Schlüsselinstitutionen der Europäischen Union. Zum Selbstverständnis des Landes gehört auch, dass es zu den integrationsfreundlichen Mitgliedstaaten zählt. Man muss nicht zu den Zeiten von Paul-Henri Spaak, einem der Gründerväter der Sechsergemeinschaft, in den fünfziger Jahren zurückgehen, wenn man nach Spuren der belgischen Antriebskraft für die europäische Einigung sucht.

Jahrzehnte danach verstanden sich Leo Tindemans und Wilfried Martens als belgische Regierungschefs und später als Spitzenvertreter der Europäischen Volkspartei stets als Anwälte des europäischen Projekts. Dass zwei ihrer Nachfolger als Regierungschefs es nicht in das Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission schafften, lag nicht an mangelndem Engagement für Europa – im Gegenteil.

Zu integrationsfreundlich: Rote Karte für Dehaene und Verhofstadt

1994 ließ eine vom damaligen britischen Premierminister John Major angeführte Riege europäischer Regierungschefs ihren Amtskollegen Jean-Luc Dehaene beim Gipfeltreffen auf Korfu auflaufen. Der redliche, aber blasse luxemburgische Ministerpräsident Jacques Santer durfte oder musste – auf Betreiben und Druck des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl – in die Bresche springen.

Ein Jahrzehnt später gab es wieder eine britische rote Karte für einen belgischen Anwärter auf das Amt des Kommissionspräsidenten. Premierminister Tony Blair, der sich kurz nach dem Amtsantritt der aus Liberalen, Sozialisten und Grünen zusammengesetzten „lilagrünen“ Koalition mit Regierungschef Guy Verhofstadt bei einem Treffen in Gent im Februar 2020 Schulter an Schulter als Vertreter des sogenannten dritten Weges hatte feiern lassen, hatte, nicht zuletzt aus innenpolitischem Kalkül, kalte Füße bekommen. Verhofstadt fiel als Bewerber durch. Ins Amt kam für die Dauer eines Jahrzehnts der Portugiese José Manuel Barroso – ein Christdemokrat. Er wollte es allen recht machen, landete aber immer wieder zwischen allen Stühlen.

Verhofstadt, beim EU-Gipfeltreffen im Brüsseler Stadtteil Laeken Ende 2001 einer der Vorkämpfer des Verfassungskonvent und damit des letztlich 2007 in den Lissabonner Vertrag weitgehend übernommenen Entwurfs für einen  Verfassungsvertrag, wechselte 2009 in das Europäische Parlament. Dort war er als langjähriger liberaler Fraktionsvorsitzender und bis zu seinem Rückzug aus dem Parlament im vergangenen Sommer einer der Wortführer einer föderalistischen Vision Europas und Mitbegründer und Sprecher der interfraktionellen Spinelli-Gruppe im EP.

Der Glücksfall Van Rompuy

Als „Notlösung“ erschien es zunächst, dass die Staats- und Regierungschefs 2009 den erst seit einem Jahr als belgischer Regierungschef amtierenden Christdemokraten Herman Van Rompuy zum ersten Präsidenten des Europäischen Rats ernannten. Seine bis 2014 währenden Jahre an der Spitze des neugeschaffenen Amts erwiesen sich als ein Glücksfall. Statt mit eigenen Steckenpferden zu nerven, gelang es Van Rompuy immer wieder geschickt und diskret, widerstrebende Positionen der EU-Partner unter einen Hut zu bringen.

Belgien 2024: Kein Blick über den innenpolitischen Tellerrand hinaus

Und jetzt? Was das „Kernland“ Belgien, ungeachtet einer meist wie geschmiert verlaufenen EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr, in den vergangenen Wochen europapolitisch abgeliefert hat, gleicht einer Blamage. Die Parteichefs von Neu-Flämischer Allianz (N-VA), flämischen Sozialisten (Vooruit) und Christlichen Demokraten (CD&V) sowie den französischsprachigen Liberalen (MR) und der Zentrumspartei „Les Engagés“, verbrachten bei den zähen, nun aus durchsichtigen taktischen Motiven über die Kommunalwahl hinausgeschobenen Verhandlungen zur Bildung der sogenannten Arizona-Koalition kaum Zeit damit, über den innenpolitischen Tellerrand hinauszublicken.

Ein unbeschriebenes belgisches Gesetz besagt, dass ein EU-Kommissar einem belgischen Ministerposten gleichzusetzen ist. Demnach bedeutet die Besetzung des Kommissionspostens automatisch ein Amt weniger für eine Partei in der Regierung. Das ist den meisten Arizona-Vorkämpfern offenbar so wichtig, dass sie keinerlei Interesse an dem Posten zeigten.

MR-Chef Bouchez schaltet und waltet

Eine Ausnahme bildete der umtriebige MR-Parteichef Georges-Louis Bouchez. Nach seinem beeindruckenden Wahlsieg im Juni im Süden des Landes strotzt er weiter nur so vor Selbstbewusstsein. Er nahm das Angebot der anderen offenbar gerne an. Böse Zungen können nun behaupten, dass es ohnehin keine Rolle spiele, wie viele MR-Minister künftig am Brüsseler Regierungstisch sitzen, weil Bouchez letztlich auch dort für seine Partei das Sagen habe.

Was trieb Bouchez jedoch auf dem Personalkarussell? Eiskalt fallen ließ er den bisherigen, ebenfalls dem MR angehörenden EU-Justizkommissar Didier Reynders. Der MR-„Parteifreund“ wäre nach seinem zweiten gescheiterten Anlauf, Generalsekretär des Europarats zu werden, nur zur gerne weiter in Amt und Würden geblieben wäre. Zupass kam Bouchez, dass Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen händeringend nach einer Frau im eindeutig männerlastigen neuen Kollegium suchte. Für den innenpolitischen Gebrauch wichtig war dabei, dass Reynders, anders als der oft glücklos handelnde und redende EU-Ratspräsident Charles Michel, bei den französischsprachigen Liberalen nicht zum Bouchez-Lager gerechnet wird.

Frist verpasst – es bleiben nur Krümel in der Kommission

Dass Bouchez – und damit Belgien – die bis Ende August gesetzte Frist zur Benennung des belgischen Kandidaten mehr als ausreizte, sorgte nicht nur in der Kommissionszentrale für einiges Stirnrunzeln. Da vor und allem hinter den Kulissen schon längt um die Posten für die neue Kommission gefeilscht wurde, war absehbar, dass für den oder die belgische Anwärterin wohl nur noch Krümel übrigbleiben würden.

So kam es dann auch, zumal mit der von Bouchez 2022 überraschend in das Amt der belgischen Außenministerin gehievten Hadja Lahbib eine Politikerin benannt wurde, der nicht nur in Belgien manche Zweifel entgegenschlugen. Die 54 Jahre alte Lahbib, Tochter nach Belgien eingewanderter algerischer Eltern, galt einst als durchaus beliebte Moderatorin der Nachrichten des Fernsehsenders RTBF, aber keineswegs als Parteigängerin der Liberalen.

Dass Lahbib Bouchez 2022 als Nachfolgerin der jetzt in das EU-Parlament gewechselten früheren Außenministerin Sophie Wilmès aus dem Hut zauberte, war auch aus einem anderen Grund erstaunlich. Erst ein Jahr zuvor war sie von der Hauptstadtregion Brüssel mit der Vorbereitung der Bewerbung als europäische Kulturhauptstadt betraut worden – von einer damals rotgrün geprägten Koalitionsregierung ohne MR-Beteiligung.

Lahbib: Erst Außenministerin, nun Kommissarin von Gnaden des MR-Chefs

Von Anfang an musste Lahbib mit dem Makel leben, Außenministerin quasi von Gnaden des MR-Chefs zu sein. Obwohl sie sich beharrlich in die für sie unvermutete Aufgabe einarbeitete, wurden ihre Auftritte mit Argusaugen verfolgt. Es dauerte nicht lange, ehe ihr zwei Fehltritte vorgeworfen wurden. So kam heraus, dass sich Lahbib 2021 mit einem russischen Einreisevisum auf die annektierte ukrainische Halbinsel Krim begeben hatte.

Den Ruf einer „Bruchpilotin“, so wurde sie jetzt in einer Wochenendbeilage der Zeitung „De Standaard“ bezeichnet, erwarb sich Lahbib dadurch, dass 2023 das belgische Außenministerium Einreisevisa für den Bürgermeister von Teheran und 12 weitere iranische Staatsangehörige für einen Kongress ausstellte. Verantwortlich schien sie dafür nicht sich selbst zu machen, sondern Pascal Smet, ein sozialistisches Regierungsmitglied der Hauptstadtregion.

Der von Politico, der im EU-Viertel und darüber hinaus eifrig besuchten Website für alles Europäische, unter Berufung auf „belgische Politiker und Diplomaten“ überbrachten Einschätzung, dass Lahbib „in ihrer Rolle als Außenministerin gescheitert ist“, wurde in „De Standaard“ relativiert. Die Zeitung zitierte derzeitige und frühere Mitarbeiter, die Lahbib bescheinigten, zu hart angepackt worden zu sein und ihren Aufgaben durchaus fleißig und engagiert nachgegangen zu sein. Der lange in Afrika tätige Diplomat Jozef Smets berichtete, dass sie mit Geschick beim Besuch Angolas im Februar 2023 dazu beigetragen habe, die Position des Landes „von einer eher prorussischen zu einer proukrainischen Haltung“ zu verschieben.

Ein Leichtgewicht in der Kommission

„Lahbib gehört zu einer neuen Generation, die subtiler mit dem Globalen Süden verfährt“, zitierte „De Standaard“ Smets. Vielleicht sind es solcherlei Überlegungen, die Kommissionspräsidentin von der Leyen zu der Absicht bewegt haben, Lahbib das Ressort „Vorsorge und Krisenmanagement“ anzuvertrauen. Dabei handelt es sich, so die Kommission, um „ein neues Portfolio, das sich mit Resilienz, Vorsorge und Katastrophenschutz befasst. Dazu gehört auch die Koordinierung der humanitären Hilfe.“ Anders ausgedrückt: Lahbib dürfte obwohl die Kommission als Kollegium entscheidet, in Brüssel  eher als Leichtgewicht gelten.

Das war einst anders. In den achtziger Jahren war der Industriekommissar Etienne Davignon ein erfolgreicher Drahtzieher. Sein Nachfolger Willy De Clercq stand als Handelskommissar oft im Rampenlicht. Noch mehr galt dies für dessen sozialdemokratischen Nachfolger Karel Van Miert, der 1989 zunächst Verkehrs- und anschließend mächtiger Wettbewerbskommissar wurde und bis 1999 in diesem Amt blieb.

Ein Amt nur für Französischsprachige?

De Clercq und Van Miert waren übrigens beide niederländischsprachige Kommissare zu Zeiten, in denen die amtierende Premierminister Martens und Dehaene ebenfalls Flamen waren. Das steht im Gegensatz zu dem jetzt oft zu hörenden Argument, wonach es in Belgien Tradition sei, eine Französischsprachigen zum Kommissar zu benennen, wenn es einen flämischen Regierungschef gebe – und umgekehrt.

Und Hadja Lahbib? Sie muss sich jetzt, wie alle designierten Kommissare, in Anhörungen den Fachausschüssen des Europäischen Parlaments stellen und ihre Qualifikation für das ihr zugedachte Ressort unter Beweis stellen. Schon zirkulieren in Brüssel und Straßburg Listen mit Namen von Kandidaten, die bei der Prüfung im Parlament durchfallen könnten. Genannt wird dabei auch Lahbib. Aber die Tatsache, dass die erst vor zwei Jahren in die Politik eingestiegene bisherige Außenministerin ein Nebenressort übernommen soll, könnte ihre Chancen verbessern, bei den Anhörungen im Parlament nicht zu sehr in die Mangel genommen zu werden.

 

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