Von Reinhard Boest
An den vergangenen Wochenenden hat europaweit der alljährliche “Tag des Offenen Denkmals” stattgefunden. Zum vierten Mal nach 1999, 2008 und 2014 war am 11. September die Villa Steuts in Tervuren (Brusselsesteenweg 151) für die Öffentlichkeit zugänglich. Die 1927 im Cottagestil errichtete Villa hatte im Jahr 1996 der – inzwischen pensionierte – deutsche EU-Beamte Detlev Boeing erworben. Seither hat er mit viel Engagement dieses architektonische Kleinod hergerichtet, das in ungewöhnlicher Weise Elemente des Jugendstils und der Art Déco vereinigt.
Das Haus war im Laufe der Jahre völlig verwahrlost. Die inneren und äußeren Schönheiten kamen erst nach und nach unter Teppichböden oder Wandverkleidungen wieder zum Vorschein. Schon im Jahr 2000 hat “Der Kontakt”, ein gedruckter Vorgänger von Belgieninfo, über dieses Projekt berichtet. Seit September 2021 steht das Gebäude nun wegen seines historischen und architektonischen Wertes und seines (wieder) guten Erhaltungszustands auf der Liste der besonders erhaltenswerten Gebäude der Provinz Flämisch-Brabant als Beispiel für den Baustil englischer Landhäuser (Cottage).
Erbaut wurde das Haus vom belgischen Bauunternehmer Joseph Steuts nach Plänen der Architekturwerkstatt Henri Jacobs Vater und Sohn in Schaerbeek. Vater Jacobs ist bekannt als “der” Schulbaumeister in Brüssel und Brabant; von ihm stammen zahlreiche Schulbauten im Jugendstil, wie etwa die denkmalgeschützte Groupe Scolaire Josaphat/École Industrielle in Schaerbeek (eingeweiht im Jahr 1907).
Die Besonderheiten des Ensembles “Villa Steuts” werden in der Broschüre beschrieben, die zum diesjährigen “Open Monumenten Dag” (OMD) in der Gemeinde Tervuren erstellt wurde. Die Mischung von Jugendstil und Art Deco ist ungewöhnlich, denn eigentlich sind beide Stile gegensätzlich: während der Jugendstil durch vielfältige Ornamente geprägt ist, setzt Art Déco auf geometrische Formen, die vom Kubismus und afrikanischen Einflüssen inspiriert sind. Nach dem Ersten Weltkrieg machte sich der Übergang zu der schlichteren Architektur des Art Déco in der Arbeit von Henri Jacob senior bemerkbar, wahrscheinlich unter dem Einfluss seines Sohnes.
Der Art Déco-Stil passt zu traditionellen Bauformen wie dem Landhaus; Merkmale sind etwa überhängende Dächer, dekorative Schornsteine, Fachwerkimitationen an den Giebeln, viele Erker sowie Anbauten mit Balkonen oder Dachloggien. Die Fassaden der Villa Steuts sind durch geometrische Formen geprägt, weisen aber vielfältige dekorative Elemente auf. Das Gebäude ist also ist ein gutes Beispiel für den Übergang von der einen Stilrichtung zur anderen.
Auch im Inneren ist der ursprüngliche Zustand wieder erkennbar. Bei den stündlichen Führungen wurde auch an die kulturelle Vergangenheit des Gebäudes erinnert. Am Ende jeder Führung gab es für die Teilnehmer ein 15-minütiges musikalisches Liveprogramm: die Sopranistin Aneta Todorova sang, begleitet von Sarah Waterman am Flügel, Arien von Donizetti und Offenbach. In den vierziger und fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hatten die damaligen Eigentümer, der Brüsseler Patissier Guillaume Buol und seine Frau, eine Schweizer Ballett- und Klavierlehrerin beherbergt, die Mädchen aus Tervuren Unterricht gab und kleine Aufführungen in der Villa organisierte.
Wer in diesem Jahr keine Gelegenheit hatte, die Villa Steuts zu besichtigen, wird sich gedulden müssen. Die Organisatoren des OMD in Tervuren legen für jedes Jahr einen anderen Themenschwerpunkt fest. Wann die Villa Steuts wieder dazu passt, ist derzeit nicht absehbar.
Fotos: Detlev Boeing
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