Von Michael Stabenow.
Zahlen lügen bekanntlich nicht. Mit zuletzt 821,91 Todesopfern je einer Million Einwohner führt Belgien, laut Statista-Angaben von Ende Mai, die internationale Statistik der COVID-19-Sterbefälle mit großem Abstand an. Dahinter folgen Spanien (580,41 Fälle/Mio Einwohner), Großbritannien (569,07), Italien (548,42) und erst an neunter Stelle die Vereinigten Staaten (310,33), die schon mehr als 100.000 Todesfälle vermeldeten.
Die offizielle belgische Statistik des Nationalen Gesundheitsamts Sciensano kommt seit Ausbruch der Pandemie auf mehr als 9000 Todesfälle. Die Zahlen sorgen für erheblichen Wirbel. Aus der Politik, aber auch der Wissenschaft gab es Rufe, die Methodik der Erfassung zu ändern, um Belgien international in einem günstigeren Licht erscheinen zu lassen. Sciensano-Chef Steven Van Gucht hält jedoch am bisherigen Ansatz unbeirrt fest. „Die Anzahl der Todesfälle, die wir ausweisen, entspricht zu fast 100 Prozent der gemessenen Übersterblichkeit“, sagte Van Gucht.
Dabei schwingt der Vorwurf mit, dass andere Länder, darunter Italien, Frankreich, Großbritannien und die Niederlande, nur deshalb deutlich niedrigere Zahlen ausweisen, weil sie nicht alle Opfer statistisch berücksichtigen. Dies gilt besonders für die Anzahl der in Belgien offenbar akribisch erfassten Todesfälle in Alters- und Pflegeheimen.
Selbst wenn die Zahl der Opfer ungefähr gleich hoch sein sollte, dann schneidet Belgien in der Statistik dennoch deutlich schlechter ab. Von den bis zum 28. Mai registrierten 9430 Todesfälle entfielen 4435 – rund 47 Prozent – auf Krankenhäuser sowie 4782 – knapp 51 Prozent – auf Alters- und Wohnheime. Während sich 96 Prozent der in den Krankenhäusern registrierten Toten eindeutig auf eine COVID-19-Infektion zurückführen ließen, lag der entsprechende Anteil bei den Alters- und Pflegeheimen nur bei 25 Prozent. In 75 Prozent der Fälle wurde als Todesursache eine Infektion als „möglich“ eingestuft. Virologe Van Gucht hat jedoch mehrfach unter Hinweis auf die „Übersterblichkeit“ den Eindruck erweckt, dass im Regelfall durchaus ein Zusammenhang mit einer Virusinfektion zu sehen sei.
Auch wenn man die von Land zu Land unterschiedliche Erfassung und methodische Herangehensweise berücksichtigt, liegen die Zahlen in Belgien deutlich höher als in Ländern wie Deutschland und Österreich, aber auch Portugal und Griechenland. Als mögliche Ursachen für die hohe Infektionsrate in Belgien werden die hohe Bevölkerungsdichte, ein hoher Anteil älterer Menschen, aber auch die Tatsache genannt, dass zahlreiche Belgier die schulfreie Woche in der Karnevalszeit in Skigebieten mit Coronavirus-Präsenz, vor allem in Norditalien, verbracht haben.
Während in Belgien Mitte März ähnlich schnell wie in Deutschland drastische Einschränkungen des öffentlichen Lebens erlassen und das Land dafür auch international gelobt wurde, zeigte sich sehr schnell eine eklatante Schwachstelle. Die Anstrengungen richteten sich zunächst vor allem auf die Krankenhäuser. Die Entwicklung in den Alters- und Pflegeheimen wurde hingegen vernachlässigt. Zudem fehlte es dort häufig an Schutzausrüstung für das Betreuungspersonal.
Zuständigkeitswirrwarr erschwert Handlungsfähigkeit
Eine weitere Schwachstelle im System ist der strukturelle Zuständigkeitswirrwarr in Belgien. Erika Vlieghe, Leiterin der Abteilung für Infektionskrankheiten der Antwerpener Universitätsklinik und Vorsitzende der Expertengruppe für die „Exitstrategie“ aus der Corona-Krise (GEES) sagte der Zeitschrift „Humo“: „Unsere Sorgen um die Wohnheime waren groß. Nur waren wir dafür nicht zuständig.“ Tatsächlich liegt hierfür die Befugnis nicht beim Föderalstaat, sondern bei den Regionen. Erschwerend kommt hinzu, dass sich in Belgien derzeit nicht weniger als neun Minister und Staatssekretäre im Bund und in den Regionen die Verantwortung für Gesundheitspolitik teilen.
So dürfe es nicht weiter gehen, lautet unisono der Befund. Doch während Sozialisten, Grüne und Liberale beider Landesteile für eine Rückübertragung der Zuständigkeit auf den Bundesstaat plädieren, streben die flämischen Christlichen Demokraten (CD&V) und vor allem die flämisch-nationalistische Neu-Flämische Allianz (N-VA) einer Übertragung der Zuständigkeit auf die Regionen an. Da eine entsprechende Verfassungsänderung eine parlamentarische Zweidrittelmehrheit erfordert, erscheint eine entsprechende Neuordnung derzeit freilich unrealistisch.
Mit der zuletzt sinkenden Anzahl von Neuinfektionen und Krankenhausaufnahmen hat sich in Belgien auch die „Übersterblichkeitsrate“ deutlich verringert. Nicht weniger als 500.000 Tests wurden in den vergangenen Wochen vorgenommen. GEES-Vorsitzende Vlieghe sieht Belgien inzwischen bei der Sterblichkeitsrate im internationalen Vergleich auf durchschnittlichem Niveau. In „Humo“ äußerte sie sich zuversichtlich mit der Einschätzung: „Belgier haben nicht die Angewohnheit, sich selbst zu beweihräuchern. Aber innerhalb kurzer Zeit haben wir doch das Testen und Aufspüren auf den Weg gebracht. Das kann ein großer Trumpf für unser Land werden.“
Da wäre interessant zu vergleichen, wie sich die offiziellen Zahlen der Virusopfer zur Übersterblichkeit in anderen Ländern verhalten.