Ein Diskussionsbeitrag von Armand Demeulenaere.
Die Sackgasse, in der die Sondierungsgespräche feststecken, ist die Folge der Spaltung der drei klassischen Parteienfamilien zwischen den 1970er und 1990er Jahren. Nach damaligem Verständnis war dies der große Wurf. Schließlich sollte die Föderalisierung der Parteienlandschaft die bis dato schwierige innerparteiliche Konsensbildung vereinfachen und das Profil der jeweiligen Parteien in den einzelnen Landesteilen schärfen. Das klassische Dreiparteienparlament, das in den 1980ern vom Wähler um die Grünen – von damals ECOLO und AGALEV – erweitert wurde, war lange Zeit ziemlich gefestigt. Koalitionen waren in Belgien fast wie einbetoniert: Konservative und Sozialisten machten gemeinsame Sache.
In Bewegung geriet das Parteiensystem um die Jahrtausendwende. In den drei Regierungen unter Premier Verhofstadt schien es, als wären die Koalitionspartner beliebig austauschbar. Zunächst waren Liberale, Sozialisten und Grüne an der Macht, gefolgt von Liberalen, Sozialisten und der Splitterpartei Spirit, gefolgt von einer Koalition aus Liberalen, Sozialisten und Christdemokraten. Ein fatales Signal an den Wähler, bei dem sich die Erkenntnis durchsetzte, dass die Parteien quasi beliebig austauschbar waren und die inhaltliche Trennschärfe aufgrund der zähen belgischen Kompromisse kaum mehr erkennbar war.
Diese Art, Politik zu betreiben, schärfte die Ränder und schwächte das Vertrauen in die klassischen Parteien. Es kam – insbesondere in Flandern – das Gefühl auf, dass die Parteien zwar sprachlich getrennt auftreten, aber sie sich aufgrund der etablierten symmetrischen Regierungskoalitionen (also je eine Parteifamilie aus Flandern und deren Schwester aus der Wallonie) doch soweit emanzipieren mussten, dass die Kernthemen verwässerten. Besonders in Flandern, in denen die Christdemokraten quasi ein Abo auf die meisten Stimmenanteile hatten, regte sich allmählich Widerstand, wuchs das Verlangen nach einer neuen konservativen Kraft, die – ähnlich der CSU in Bayern – die flämischen Interessen vertrat.
Aus diesem Verlangen erwuchs schlussendlich die N-VA, ursprünglich als Kartellpartner und Wurmfortsatz der CD&V. Nun geschah das aus heutiger Sicht Fatale: nicht die CD&V profitierte von dieser Partnerschaft, sondern die NV-A, die wie ein Staubsauger flämische Nationalisten vom Vlaams Belang absaugte, die mit der rassistischen und radikalen Gangart dieser Schergen nichts anfangen konnten. Intellektuelle wie Siegfried Bracke, Bart de Wever, gemäßigt rechte Separatisten aber auch ein links-diskursiver Kreis vereinten viele Anhänger der flämischen Autonomiebewegung zu einer neuen Volkspartei. Durch ihr Erstarken wurde die Regierungsbildung auf föderaler Ebene in Belgien erheblich erschwert. Die symmetrischen Regierungskoalitionen hatten keine Mehrheit mehr, das belgische Experiment geriet außer Kontrolle.
Zur Zeit der Parteienspaltung war eine separatistische Mehrheitspartei selbst nach mehreren Flaschen Trappistenbier nicht denkbar. Und noch etwas: das belgische Modell fußt auf der Annahme politischer Konsensbildung zwischen den drei großen Parteifamilien liberal, links und konservativ. Die Grünen mit ihrem unitaristsch anmutenden Auftreten und ihren überschaubaren Stimmenanteilen konnte das System noch verkraften. Mit dem Aufkommen der N-VA als Volkspartei und dem Erstarken des Vlaams Belang im Zuge der Flüchtlingswelle funktioniert dieses System aber nicht mehr. Die Fliehkräfte sind unbeherrschbar geworden, der Drift zu groß. Belgien ist am Ende! Schade! Es gibt aber eine Chance: Belgien als Wegbereiter für ein Europa der Regionen ohne Nationalstaaten. Vielleicht kann dieses großartige Land – nicht zum ersten Mal – beweisen, dass es trotz großer Differenzen eines kann: Ausgleich schaffen, Frieden bewahren und Völker vereinen, warum nicht im großen Stil? Ein Europa ohne Nationalstaaten hätte zudem einen positiven Effekt: es würde Nationalisten überflüssig machen. Gut so!
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