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Querfeldeinrennen – ein Kultsport in den dunklen belgischen Monaten

Foto: Flowizm CC BY 2.0 via FlickR

Von Michael Stabenow

Sportfans und auch manch andere Zeitgenossen, die dieses Attribut nicht unbedingt für sich beanspruchen, suchen nach den Weihnachtstagen vor dem Fernseher gerne nach einem geeigneten Zeitvertreib. An kitschigen Komödien, etliche nicht zum ersten Mal im Programm, herrscht kein Mangel.

Aber Sport? In England läuft der Betrieb im Profifußball in diesen Tagen traditionell auf Hochbetrieb. Wer Pay-TV-Anbieter vermeiden will, muss darauf verzichten und stattdessen mit diversen Wintersportübertragungen, nicht zuletzt der Vierschanzentournee der Skispringer, vorlieb nehmen.

In Belgien existiert eine Sportart, die in diesen Tagen – auch im frei empfangbaren Fernsehen – auf Hochtouren läuft und für gute Einschaltquoten sorgt: Querfeldeinrennen, auf Niederländisch „veldrijden“ und auf Französisch „Cyclo-cross“. Während sich viele Profiradrennfahrer auf gut befahrbaren Straßen im milden Süden Europas auf die kommende Saison vorbereiten, tobt sich unterdessen eine kleine Schar auf meist matschigen, gelegentlich auch tiefgefrorenem Untergrund in nördlicheren Gefilden aus.

Nur gut eine Stunde dauern die Rennen, die auf meist ebenso abwechslungsreichen und anspruchsvollen Rundkursen ausgetragen werden. Wer anschließend die oft verdreckten Trikots und – mehr noch – die ausgepumpten Teilnehmer sieht, kann sich einen Eindruck von den Strapazen der Disziplin machen. Gleichermaßen sind  Geschick am Lenker sowie Kraftreserven beim Tritt in die Pedalen und – immer wieder – beim Laufen und Springen mit dem geschulterten Rad gefordert.

Gefahren wird auf Rädern, die sich auf den ersten Blick nicht von klassischen Rennrädern unterscheiden. Profil und Maß der Reifen sind jedoch anders, an die Bedingungen des Rennens angepasst. Auch beim Reifendruck gilt es, der Bodenbeschaffenheit optimal Rechnung zu tragen. Häufig kommt es daher zu Radwechseln in der „neutralen Zone“ – sei es, weil Schaltungen und Zahnkränze verdreckt sind oder Profil und Luftdruck der Reifen einfach nicht passen.

In den Niederlanden und vor allem in Belgien hat sich Querfeldeinrennen zu einem regelrechten Kultsport entwickelt. Dazu beigetragen hat, dass seit Jahren Profis aus einem dieser beiden Länder die Sportart beherrschen. Lange zurück liegen die Zeiten, als deutsche Fahrer in Schlamm, Modder oder Matsch eine herausragende Rolle spielten. Rolf Wolfshohl, 1965 Sieger der Spanienrundfahrt und drei Jahre später respektabler Sechster bei der Tour de France, dem schwersten Mehrtagesrennen auf der Straße, wurde drei Mal Weltmeister im Querfeldeinrennen. Sein Landsmann Klaus Thaler gewann den Titel in den siebziger Jahren zweimal.

Aus Belgien, genau genommen aus dem flämischen Landesteil, kommen viele Fahrer, die jahrelang das Geschehen entscheidend mitgeprägt haben. Dazu zählen der siebenfache Weltmeister Erik De Vlaeminck (in den sechziger und siebziger Jahren) sowie Roland Liboton (vier WM-Titel in den achtziger Jahren). Nur auf zwei WM-Titel kommt Sven Nys. Der heute 46 Jahre alte ehemalige Fahrer, heute regelmäßig als Fernsehkommentar bei Querfeldeinrennen präsent, beherrschte zwei Jahrzehnte lang sehr oft die Sportart nach Belieben.

Die drei dominierenden Querfeldeinfahrer der heutigen Generation gehören auch zu den erfolgreichsten auf der Straße. Der Niederländer Mathieu Van der Poel, der zweimal (2020 und 2022) den Radklassiker Flandernrundfahrt sowie 2021 das besonders anspruchsvolle Rennen „Strade bianche“ in der Toskana für sich entscheiden konnte, lief in den vergangenen Wochen seiner Form etwas hinterher. Amtierender Weltmeister ist der Brite Tom Pidcock. Er gewann bei den Olympischen Spielen in Tokio 2021 die Goldmedaille im Mountainbike-Rennen.

Noch stärker einzuschätzen ist derzeit Belgiens Superstar Wout van Aert. Er ist nicht nur dreifacher Weltmeister der Disziplin, sondern gilt als vielseitigster Fahrer seiner Generation. Bei der jüngsten Tour de France gewann der 28 Jahre alte Fahrer aus dem östlich von Antwerpen gelegenen Herentals nicht nur drei Etappen, darunter ein individuelles Zeitfahren, sondern auch das – nur hervorragenden Sprintern winkende – Grüne Trikot für die besten Platzierungen bei den Tagesabschnitten. Obwohl der 1,90 Meter lange van Aert zuletzt 78 Kilogramm auf die Waage brachte, schlug er sich auch auf mehreren Bergetappen – bei denen Leichtgewichte üblicherweise im Vorteil sind – mehr als beachtlich.

Beim Weltcuprennen am Montag in Gavere bei Gent setzte sich  van der Poel, ein Enkel der 2019 verstorbenen französischen Radsportlegende Raymond Poulidor („Poupou“), offenkundig wiedererstarkt vor van Aert und Pidcock durch. Auf den oft gleichermaßen ruppigen wie nassen Parcours der Querfeldeinrennen bewegen sich die drei Profis wie Fische im Wasser – sehr zur Freude der vielen Anhänger. Zahlreiche Fans pilgern von Ort zu Ort zu den Weltcup- oder „Superprestige“- und anderen Rennen. Ob am ostflämischen Koppenberg, an der Zitadelle von Namur oder beim Auf und Ab in Overijse – überall gibt sich die Karawane der Fans ein Stelldichein.

Schon am Vorabend der Rennen treffen Wohnmobile aus dem In- und Ausland ein, bevölkert nicht nur mit Fans, sondern auch mit Rennfahrern und Rennfahrerinnen aller Generationen, ihren Betreuern, aber oft auch Freunden und Angehörigen. Es geht dort meist sehr familiär zu – auch beim Rennen sind van Aert und die anderen teilnehmenden Fahrer für die unmittelbar am Wegesrand stehenden „zum Anfassen“ nahe.

Fanden lange Jahre die Rennen der ursprünglich an der Wende zum 20. Jahrhundert in Südfrankreich entstandenen Sportart fast ausschließlich in Belgien und den Niederlanden, gelegentlich auch mal in Deutschland, Tschechien oder der Schweiz statt, werden inzwischen Weltcup-Rennen sogar in den Vereinigten Staaten oder – zuletzt erstmals – in Dublin ausgetragen. Lange Zeit fristete das Frauenquerfeldeinrennen ein Schattendasein. Wer erinnert sich noch daran, dass mit Hanka Kupfernagel eine Deutsche in den Jahren 2000, 2001, 2005, 2008 jeweils den Weltmeistertitel errang? Heute sind die erfolgreichsten Fahrerinnen fast ausnahmslos Niederländerinnen wie Fem van Empel, Shirin van Anrooij oder Puck Pieterse.

An Rennterminen (im Regelfall am Nachmittag) herrscht in den kommenden Tagen kein Mangel. Die Rennen werden im Free-TV überwiegend vom VRT-Sportsender Sporza, zum Teil auch von VTM, Eurosport oder Playsports übertragen. Auf dem Kalender stehen in den nächsten Tagen Rennen in Heusden-Zolder (27.12.),  Diegem (28.12., abends), Loenhout (30.12), Baal (1.1.), Herentals (3.1.), Koksijde (5.1.), Gullegem (7.1.) sowie Zonhoven (8.1.) Die Weltmeisterschaften finden in diesem Jahr vom 3. bis 5. Februar in dem nur ein paar Steinwürfe von der Grenze zu Belgien entfernten niederländischen Hoogerheide statt.

 

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