

Ein neuer, unerwarteter Anlauf, das Brüsseler Polit-Chaos zu überwinden
Von Reinhard Boest
Es war ein Scheitern mit Ansage: Am vergangenen Freitag hat David Leisterh, Vorsitzender der frankophonen Liberalen in Brüssel und Bürgermeister von Watermael-Boitsfort, den Auftrag zur Bildung einer neuen Regionalregierung zurückgegeben. Damit steht Brüssel-Hauptstadt mehr als acht Monate nach der Wahl am 9. Juni 2024 weiter ohne vollwertige Regierung da. Die seit 2019 amtierende Regierung unter Ministerpräsident Rudi Vervoort (PS) bleibt geschäftführend im Amt; für dringend notwendige politische Entscheidungen, etwa in den Bereichen Finanzen, Verkehr, Wohnen oder Soziales fehlt ihr aber das Mandat. In der Zwischenzeit herrscht im neu gewählten Brüsseler Regionalparlament so etwas wie das freie Spiel der Kräfte; man hat den Eindruck, dass sich fast täglich neue Mehrheiten zu einzelnen Sachfragen bilden.
Wie geht es weiter? Nach der Wahl dachten viele, dass es schnell gehen könnte, wie es die Wallonie und die – vor allem für das frankophone Bildungs-p und Hochschulwesen zuständige – Föderation Wallonie-Brüssel (FWB) mit einer neuen Koalition zwischen MR und den Zentristen von “Les Engagés” vorgemacht hatten. Auch in Brüssel hatten die Liberalen vom MR die Sozialisten als stärkste Partei abgelöst, die Grünen von Ecolo waren geradezu abgestürzt, und damit hatte die bisherige Regierungskoalition ihre Mehrheit klar verloren. Auf der anderen Seite verfehlten MR und “Les Engagés” eine eigene Mehrheit deutlich – und dann gibt es ja noch die Brüsseler Besonderheit: es bedarf nicht nur einer Mehrheit auf der frankophonen, sondern auch auf der niederländischsprachigen Seite. Das war seinerzeit der gemeinschaftspolitische Preis für eine autonome Region Brüssel.
Und hier liegt weiterhin der Kern des aktuellen Stillstands. Denn die Parteien streiten gerade nicht über die richtigen Lösungen für die oben genannten Kernprobleme, vor denen die Region steht. Sondern erst einmal – und immer noch – darüber, wer überhaupt mit wem darüber auf dem Weg zu einer neuen Mehrheit verhandeln soll.
Auf der frankophonen Seite fanden sich – vor allem mangels Alternativen – MR, PS und “Les Engagés” schnell zusammen. Die Partner der alten Koalition Ecolo und Défi wollten nach der heftigen Niederlage in die Opposition, mit der linksextremen PTB/PVDA von Raoul Hedebouw wollte keiner zusammenarbeiten. Dann musste man auf eine Mehrheit der Niederländischsprachigen warten, deren Bildung wegen der extremen Zersplitterung des Wahlergebnisses (17 Sitze verteilen sich auf acht Parteien und einen Unabhägigen) bis November dauerte. Als sich dann herausstellte, dass die flämischen Nationalisten von der N-VA (der Partei des neuen föderalen Premierminister Bart De Wever) Teil der Mehrheit sein würden, legte der Brüsseler PS-Vorsitzende Ahmed Laaouej ein Veto ein. Mit einer Partei, zu deren Zielen letztlich die Abschaffung einer eigenständigen Region Brüssel gehöre, könne man nicht zusammenarbeiten.
Seit November herrscht daher totaler Stillstand. Es gelang weder, auf der niederländischsprachigen Seite die N-VA durch den einzigen Christdemokraten im Parlament zu ersetzen, noch auf der frankophonen Seite den PS durch Ecolo und Défi eine alternative Mehrheit zustande zu bringen (siehe auch https://belgieninfo.net/verhandlungen-in-bruessel-rutschen-immer-mehr-ins-chaos/).
Nach dem Rückzug von Leisterh wäre eigentlich der Chef der zweitgrößten Fraktion dran gewesen, eine Mehrheit zu finden: Ahmed Laaouej. Aber der PS-Chef winkte schon vorher ab. Vielleicht ist er sich auch selbst bewusst, dass er als Teil des “Problems” nur schwer als Architekt einer Lösung fungieren kann. Es brauche jetzt jemanden, der das Vertrauen aller Seiten habe.
Und so übernehmen jetzt zwei Akteure, die versuchen sollen, erst einmal überhaupt wieder eine Vertrauensbasis zu schaffen, auf deren Grundlage ein neuer Anlauf für eine Koalitionsmehrheit erfolgen könnte: die noch amtierende Brüsseler Verkehrsministerin Elke Van Den Brandt von den flämischen Grünen (Groen) und der Brüsseler Vorsitzende von Les Engagés, Christophe De Beukelaer. In einer gemeinsamen Erklärung sprechen sie von einer nie dagewesenen politischen Sackgasse, aus der sie im Dialog einen Ausweg suchen wollten. Da beide sich wahrscheinlich nicht selbst als Ministerpräsident/in sehen, fungieren sie wohl eher als “informateur”, eine Funktion, die man von früheren endlosen Bemühungen um eine föderale Regierung in Belgien kennt: eine Art Vor-Vorstufe zu Koalitionsverhandlungen. Es gehe jetzt darum, die Blockaden zu identifizieren, “Minen zu entschärfen” und zu vermitteln. Das Duo versteht sich auch als Signal: nur zusammen und in gegenseitigem Respekt der beiden Sprachgruppen könnten die Brüsseler Probleme gelöst werden. Es ist auch eine Abkehr von der bisherigen Praxis, wonach zunächst in jeder Sprachgruppe Mehrheiten gesucht wurden, die dann anschließend miteinander über eine Koalition verhandelten.
Beide haben angekündigt, dass sie von dieser Woche an mit “allen dreizehn Brüsseler Parteien” im Parlament (sechs auf frankophoner, sieben auf flämischer Seite) “offene Gespräche” führen wollen, mit Ausnahme des rechtsradikalen Vlaams Belang. Eingeladen werden also auch PTB/PVDA und das “Team Fouad Ahidar”, das mit einem stark auf die muslimische Bevölkerung ausgerichteten Wahlkampf erfolgreich war. Alle drei gelten aber bei mehreren anderen potentiellen Koalitionspartnern bisher als “No Go”.
Diese Aufgabe müssen die beiden in einer zunehmend angespannten politischen Athmosphäre angehen. Kurz vor Leisterh’s Rückzug forderte der föderale Premierminister Bart De Wever in der Kammer auf Französisch “Arretez le sketch”.

Der MR-Vorsitzende Georges-Louis Bouchez griff die Sozialisten scharf an und warf ihnen vor, die “Straßen in Brand zu stecken, Chaos zu organisieren und das Zusammenleben in der Region zu blockieren”. Er hat anscheinend auch ein Problem mit Van Den Brandts und Beukelaers Initiative, denn nur Leisterh könne das “am Boden liegende Niveau der Brüsseler Politik wieder aufrichten”. Vielleicht auch wegen dieser scharfen Töne hat Leisterh die Pressekonferenz abgesagt, in der er seinen Rückzug verkünden wollte – denn dort hätte erfahrungsgemäß Bouchez das Wort geführt.
Man kann den “informateurs/démineurs” nur alles Gute wünschen für ihre Mammutaufgabe, denn Neuwahlen angesichts der Blockade lässt die Verfassung nicht zu. Und unterdessen wächst das Defizit der Region weiter, der Weiterbau der Metrolinie 3 hängt in der Luft, keiner weiß, wie sich die angekündigten Maßnahmen der Arizona-Regierung auf die Sozial- und Personalausgaben der Region auswirken werden, wie man mit Wohnungsmangel und steigenden Mieten umgehen soll…
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