Aktuell, Panorama

Julius Koch, Ruhe in Frieden!

geant0Von Angela Franz-Balsen

Mons 2015 ist (fast) vorbei. Zum Jahresende bleiben von der Europäischen Kulturhauptstadt renovierte Plätze und Straßen, fünf neue Museen und ein Konzerthaus, und Organisatoren, die sich zufrieden zeigen. “Van Gogh in der Borinage” war die Spitzenausstellung, der Crash der hölzernen Freiluftinstallation des flämischen Künstlers Arne Quinze beste Lachnummer, und wir erinnern uns gern an so manche höchst persönliche Performance. Zum Beispiel an das bizarre und bewegende Begräbnis eines unglücklichen deutschen Riesen in Mons.

Eine Trauergemeinde, lauter schwarzgekleidete Menschen mit Zylinderhüten und Schleiern, traf sich an einem Oktobermittag am Fuß des Belfrieds, des Glockenturms. Hier, aus der geöffneten Tür der Galerie „KOMA“, drangen melancholische Akkordeonklänge. Die Stimmung unter den etwa 40 Trauernden war gleichwohl locker, schelmisch, fast fröhlich.

Der Tote, den sie zu Grabe tragen wollen, wartete in der Galerie: Auf einer Holzbahre senkrecht aufgerichtet stand der symbolisierte Leichnam von Julius Koch, eine aus weißem Leinen genähte Strohpuppe, stattliche 2,58 Meter hoch. Exakt so groß war nämlich dieser Deutsche aus Göppingen in Württemberg. Er fristete sein Leben als Kuriosität in Variétées, auf diese Weise hatte es ihn in die südbelgische Industriestadt verschlagen. Dort war er nachmittags in einem Café am Marktplatz zu besichtigen und zu sprechen. In Mons hat er seine Leidensjahre verbracht, als die übergroßen Körperteile nach und nach ihren Dienst versagten. Nach einer Beinamputation starb er am 30. März 1902 – im Alter von 30 Jahren.

Le “Géant Constatin”

„Acromegalie“ – so die wissenschaftliche Bezeichnung dieses Gigantismus, der auf einer Hormonstörung beruht . Dabei gerät nicht nur das Längenwachstum aus den Fugen, auch die Extremitäten als solche können sich vergrößern und viele innere Organe funktionieren nicht normal. Die Lebenserwartung der Betroffenen ist gering. Die Musik schwillt an, weiße Handschuhe werden verteilt, Männer tragen die Bahre mit Julius heraus. Roland Thibeau, Literat und Schauspieler, hält eine poetische Totenrede über das Leid des als „Géant Constantin“ bekannten Riesen. Sie rührt auch die, die sein Schicksal kennen. Nahezu vergessen ist, dass hier nur ein Stellvertreter steht. Das echte Skelett des Riesen wird im Naturkundemuseum zur Schau gestellt – als Kuriosität, wie eh und je.

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Eigentlich wollte die Trauergemeinde ja diese „richtigen“ Überreste zu Grabe tragen. Die Beerdigung war als Schlussakt einer ganzjährigen Hommage an diesen bedauernswerten Bürger von Mons geplant. Künstlerinnen und Künstler hatten ihm auf unterschiedlichste Weise Respekt gezollt: mit Installationen, Plastiken, Texten, Gesängen, mit Events und einem wissenschaftlichen Kolloquium über die ethische Frage des Umgangs mit Leichen. All dies zählte als eines der künstlerischen Projekte, die 2015 in Mons stattfanden. Als letzten Akt wollten die Künstler die Gebeine von Julius Koch auf einem Friedhof die Totenruhe finden lassen. Ab das Museum für Naturgeschichte rückte sein wertvolles Exponat nicht heraus.

Rum aus dem Holzfässchen

So setzt sich der Leichenzug mit dem symbolischen Toten in Bewegung. Raschen Schritts geht es durch die Gassen der Innenstadt, denn die kleine Prozession wird bis zum hochgelegenen Dorffriedhof von Nouvelles eine Strecke von fünf Kilometern zurücklegen. Damit das weder den Trägern noch den Mitlaufenden zu anstrengend wird, gibt es etliche Stationen, wie bei einem Kreuzweg. Jean-Pierre Denefve, Eigentümer der Galerie Koma und Initiator des Projekts, dirigiert das Geschehen und stellt dezent die Künstlerinnen und Künstler vor, die an und zwischen den Stationen das Geschehen gestalten. Etwa den Schauspieler Julien Vanbreuzeghem, der im blendend weißen Satinanzug und mit Elvis-Brille als sprachlose Kulisse neben dem Leichnam steht. In dieser Pose hat er das ganze Jahr über alle Events begleitet, als Symbol für Wissenschaft und Medizin, für die der Riese ein willkommenes Forschungsobjekt war.

Geant3Annie Rak und Stefan André von einer Monser Theaterkompagnie rücken an der zweiten Station als Mutter und Bruder in ihren Monologen das Kind Julius ins Zentrum: „Julius, Julius, mein Kleiner, mein Kind, mein ganz Kleiner, du wächst, du wächst zu sehr …“. Ergriffene Stille.

Ansonsten wird es munter: Jean-Pierres Frau schenkt unterwegs Rum aus einem Holzfässchen aus, zweimal wird in Gasthöfen eingekehrt, es gibt Kaffee, Bier und Wein für alle. Dann geht es weiter, jetzt mit zwei Akkordeons, später mit drei und vier, die Musik munter zum Marschieren. Plötzlich vier Kapuzengestalten unter einem Viadukt, engelsgleicher Gesang. Studenten des Monser Konservatoriums ehren den Toten auf ihre Weise und schließen sich dem Zug an. Damit es nicht zu traurig wird, springen ab und zu Clowns durch die Wiesen und Felder bis die Trauerprozession den Friedhof von Nouvelles erreicht.

Vor dem Gittertor wird die Strohpuppe ein letztes Mal aufgerichtet, dann verbrannt. Die Akkordeons spielen sanft, während wir nun die symbolische Grabstätte aufsuchen, die an der höchsten Stelle dieses pathetischen Dorffriedhofs liegt. Hier sollten eigentlich die Gebeine des richtigen Riesen in Frieden ruhen. Der Stein auf dem leeren Grab ist 2,58 m hoch.

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