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Im Zeichen grenzübergreifender Verständigung

Podiumsdiskussion in der Deutschen Botschaft anlässlich des Festaktes zu 60 Jahren Aktion Sühnezeichen. Foto: Michael Stabenow

60 Jahre Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) in Belgien

Von Michael Stabenow

Dora Giesel und Viktor Posti kannten sich nicht. Sie hatten jedoch ein gemeinsames Ziel für das Jahr nach ihrer Schulzeit: die Ukraine. Dann durchkreuzte der russische Überfall auf das Nachbarland im Februar 2022 ihre Pläne. Über die Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) führte der Weg für die unweit von Berlin beheimatete Dora und den aus Schwerin stammenden, aber in Wuppertal aufgewachsenen Viktor nicht ost-, sondern westwärts: nach Belgien.

Sie sind zwei von elf jungen Menschen, die derzeit bei ASF-Partnerorganisationen in Belgien einen einjährigen Freiwilligendienst absolvieren: Dora in der in Zoersel, östlich von Antwerpen, gelegenen Einrichtung Monniken-Spectrum für Menschen mit Einschränkungen, Viktor bei dem im Herzen des Brüsseler EU-Viertels angesiedelten „European Jewish Community Centre“ (EJCC). Es dient unter anderem als Verbindungsstelle zu den europäischen Institutionen, leistet aber auch praktische Unterstützung für bedürftige, in Brüssel lebende jüdische Bürgerinnen und Bürger.

Nun sitzen Dora, Viktor und die anderen neun, derzeit ebenfalls in Belgien tätigen ASF-Freiwilligen im Beethovensaal der Deutschen Botschaft in Brüssel. Es gilt etwas zu feiern. 1963, vor 60 Jahren sowie 18 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, lief das erste ASF-Projekt in Belgien an. Es ging um den Bau eines Jugendheims in Wasmuel bei Mons.

Das Projekt in einer durch den Überfall deutscher Truppen sowie den wirtschaftlichen Strukturwandel der Nachkriegszeit schwer getroffenen wallonischen Region passte bestens zur Zielsetzung der ursprünglich von der Synode – dem Kirchenparlament – der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) 1958 gegründeten Organisation: Aussöhnung und Verständigung zwischen Deutschen und Menschen in Ländern, die unter der Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus gelitten haben. Derzeit gibt es ASF-Projekte in elf Ländern, darunter Israel und die Vereinigten Staaten.

In Belgien, wo ASF ein seit sieben Jahren von Sara Mieth geleitetes Landesbüro unterhält, beteiligen sich die Freiwilligen derzeit an den unterschiedlichsten Projekten. Dazu zählen Gedenkstätten, Museen, Forschungs- und pädagogische Einrichtungen in verschiedenen Regionen des Landes. Beim Festakt in der Botschaft, bei dem auch zwei 94 und 96 alte unmittelbare Opfer der Nazi-Gewaltherrschaft anwesend sind, ist ASF-Geschäftsführerin Jutta Weduwen aus Deutschland angereist. Sie bezeichnet die freiwilligen Helfer als „Brückenbauer, die Türen und Herzen öffnen“. In tagtäglichen Begegnungen gehe es auch in Belgien darum, sich kennen zu lernen, zu verstehen und näher zu kommen.

Martin Kotthaus, deutscher Botschafter, würdigt ebenfalls den Beitrag von ASF im Allgemeinen und der anwesenden  Freiwilligen im Besonderen zur Verständigung zwischen Menschen und Völkern. Sie sorgten für „Bande, die stärker sind als das, was uns trennt.“ In einer für Diplomaten eher untypischen direkten Sprache wendet er sich an die Gäste: „Dieses Mal können wir uns freuen, denn das ist toll. Schön, dass Sie hier sind. Auf die nächsten 60 Jahre!“

Seine Erwartungen seien mit seinem Einsatz im Jüdischen Gemeinschaftszentrum deutlich übertroffen worden, berichtet der Wuppertaler Viktor Posti über seine Erfahrungen als Freiwilliger in Brüssel. Die Tätigkeit im kleinen, fünf Mitarbeiter umfassenden Team sei sehr vielfältig: Arbeit an der Website, einem Newsletter, Pakete austragen, Backen, aber auch Essen zu bedürftigen Menschen bringen. „Am meisten gefällt mir die Freundlichkeit, mit der ich hier aufgenommen worden bin“, berichtet Viktor. Seine Zukunft sieht er übrigens nicht weit von Brüssel. Im niederländischen Eindhoven hat er sich für ein Studium der Physiotherapie eingeschrieben.

Auch Dora aus dem Bundesland Brandenburg bedauert es nicht, dass sie wegen der Kriegswirren das Jahr als ASF-Freiwillige nicht im ukrainischen Odessa, sondern im flämischen Zoersel verbringen. Wie Viktor lobt sie den ASF-Alltag in Belgien. Im Tageszentrum von Monniken-Spectrum habe sie ebenso vielfältige wie wichtige Erfahrungen im Umgang mit Menschen mit und ohne Behinderungen gesammelt – beim Spielen, Basteln, in der Werkstatt oder auch beim Backen. Anders als Viktor will Dora demnächst nach Deutschland zurückkehren. Und sie fühlt sich durch die Erfahrungen in Zoersel darin bestärkt, ein Studium der Rehabilitatonspädagogik aufzunehmen.

Bei einer von der Brüsseler ASF-Büroleiterin Mieth geleiteten Podiumsdiskussion äußern sich Vertreter belgischer Partnerorganisationen sowie die ehemalige ASF-Freiwillige Johanna Stoll lobend zu den gesammelten Erfahrungen. Monniken-Spectrum-Abteilungsleiter Patrick Verheyen denkt offenbar keineswegs nur an „seine“ Freiwillige Dora Giesel, als er über die deutschen Helferinnen und Helfer sagt: „Sie kommen als junge Freiwillige und gehen nach einem Jahr als Erwachsene mit viel Erfahrung.“

Stoll, 2015/16 ASF-Freiwillige bei der zur Armutsbekämpfung gegründeten Hilfsorganisation ATD Quart monde und heute Sozialarbeiterin, sagt – in makellosem Französisch – zu den in ihrem Brüsseler Jahr gesammelten Erfahrungen: „Das ist das Beste, das mir passieren konnte.“ Nicht nur habe sie dort eine neue Welt erschlossen, sondern auch verstanden, dass es beim Einsatz für hilfsbedürftige Menschen nicht um Barmherzigkeit, sondern um Würde und Emanzipation („Befreiung“) der Menschen gehe.

Positiv über ihre Erfahrungen mit ASF-Freiwilligen – „eine Win-win-Situation“ – äußerte sich bei der Diskussion auch Isabelle Ponteville vom belgischen Dokumentationszentrum für Konflikte des 20. Jahrhunderts (Cegesoma). Eitan Bergman, Direktor des in Brüssel ansässigen ASF-Partners „European Union of Jewish Students“ mit rund 160000 Mitgliedern gibt zu bedenken, dass die Herausforderungen weit über die historische Aussöhnung hinausgingen.

Unter Anspielung auf den Krieg in der Ukraine verweist der junge Belgier darauf, wie wichtig es sei, Brücken zwischen Ländern und Völkern zu errichten und sich gegen die Diskriminierung von Minderheiten zu wenden. „Hass entspringt der Ignoranz“, sagt Bergman. Dass sich die deutschen Helfer freiwillig für die Aufgabe im Ausland entschieden hätten, spreche schon für sich. „Sie wollten hier sein und gaben ein Jahr ihres Lebens dafür“, erläutert der Direktor der Studentenorganisation.


Fotogalerie

Fotos: Michael Stabenow

Podiumsdiskussion in der Deutschen Botschaft anlässlich des Festaktes zu 60 Jahren Aktion Sühnezeichen Friedensdienste
ASF-Freiwillige Dora Hermine Giesel
ASF-Freiwilliger Viktor Posti
ASF-Geschäftsführerin Jutta Weduwen
Patrick Verheyen und Isabelle Pontville
Eitan Bergman und Johanna Stoll
Botschafter Martin Kotthaus

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