Von Heide Newson.
Sie steht für ein bürgernahes, familienfreundliches Europa, ist eine Kämpferin und eine unglaublich engagierte und integrierende Persönlichkeit. Die Rede ist von der flämisch-nationalen EU-Abgeordneten Helga Stevens, Jahrgang 1968, die unlängst einstimmig von der Fraktion der Europäischen Konservativen (EKR) als offizielle Kandidatin für die Wahl des neuen Parlamentspräsidenten nominiert wurde. Im Januar 2017 soll sie die Nachfolge des deutschen EP-Präsidenten, Martin Schulz (SPD/S&D) antreten.
Ich treffe Helga Stevens in der vierten Etage des Willy Brandt Gebäudes in Begleitung ihrer Gebärdensprachdolmetscher und einem Pressesprecher im Besuchszimmer des Europaparlaments.
Vor etwa einem Monat war sie mir während eines Empfangs ihrer Fraktion als offizielle Kandidatin für das Amt der Präsidentin des Europaparlaments vorgestellt worden. Da lag es nahe, mit ihr einen Interview-Termin zu vereinbaren. Sie habe das Rückgrat zur Parlamentspräsidentin, sie werde die Ära der grauen Herren beenden, so die Einschätzung des deutschen Europaabgeordneten Arne Gericke (Familienpartei). Ihre Gehörlosigkeit sei dabei weder ein Hindernis noch ein Thema.
Diese ist während unseres Gesprächs tatsächlich kein Hindernis. Freundlich, besonnen, politisch erfahren, äußerst konzentriert, offen und ehrlich, beantwortet sie meine Fragen.
Immer mit dem Dolmetscher
Dass dabei ein (Gebärdensprach-) Dolmetscher unser Gespräch begleitet, bemerke ich nach ein paar Minuten kaum. Viel zu präzise sind ihre auf den Punkt gebrachten Antworten. „Ich bin zwar gehörlos, höre aber gut zu,“ lacht sie, und spricht über ihren amerikanischen Gebärdensprachdolmetscher locker auch über Privates. „Ja, ich bin verheiratet, wohne in Gent, pendle entsprechend meiner Termine mit dem Zug oder Auto nach Brüssel, und habe einen Sohn und eine Tochter. Nein, mein Ehemann ist nicht in der Politik tätig, so verrückt ist er nicht,“ scherzt sie, „aber er steht voll und ganz hinter meiner politischen Arbeit.“
Karriere, Kind, Ehefrau …. alles gleichermaßen unter einen Hut zu bringen, ist wahrlich keine leichte Aufgabe, aber Helga schafft es. Mit Sohn und Tochter verständigt sich Helga Stevens, seit ihrer Geburt gehörlos, durch eine Kombination von Gebärdensprache, Lippenlesen sowie Lautsprache.
Geboren wurde sie am 9. August 1968 in St. Truiden. Wegen ihrer Taubheit wurde sie auf eine Schule für Gehörlose in Hasselt geschickt, wo sie in der Lautsprache unterrichtet wurde. „Ich kann nicht oft genug betonen, wie wichtig das Erlernen der Gebärdensprache ist. Für mich ist sie der Schlüssel und das Werkzeug für eine interaktive Kommunikation. Ich hatte Hörapparate, mochte sie aber nicht, auch halfen sie mir nicht.“
Arbeit und Willensstärke
Es scheint fast unfassbar, was die flämische Politikerin durch harte Arbeit und Willensstärke schon alles erreicht hat. Und ihre berufliche Entwicklung und Erfolgsgeschichte steht geradezu als Ermutigung für alle Gehörlose. Im Jahr 1993 erhielt die hübsche Blondine, die Rechtswissenschaften an der Katholischen Universität Leuven studierte, als erste flämische Gehörlose, ein Juradiplom. Ein Jahr später machte sie an der „University of California Berkeley“ ihren „Master“. Danach ging alles Schlag auf Schlag. Im Jahr 1996 erhielt sie einen Job bei der „Organisation European Union of the Deaf“, im Jahr 2004 trat sie der N-VA bei, im Jahr 2009 wurde sie ins Flämische Parlament gewählt. Danach saß sie mehrfach im belgischen Senat, zuletzt bis zum 24.Mai 2014 als Senatorin.
Dann erfolgte im Jahr 2014 der große Sprung als Europa-Abgeordnete der N-VA ins Europaparlament, wo sie für bürgerliche Freiheiten, Justiz, und Inneres, sowie die parlamentarische Kooperation mit Kasachstan, Kirgistan, Usbekistan, Tadschikistan, Mongolei oder Turkmenistan zuständig ist. Am 28. September war sie Gastgeberin einer vielbeachteten internationalen Konferenz über „Mehrsprachigkeit, gleiche Rechte, und die Rolle der Gebärdensprache“, an der 832 Personen teilnahmen.
Einstimmig nominiert
Dabei wollte die gelernte Juristin ursprünglich gar nicht in die Politik, obwohl sie schon früh durch ihre Eltern, die in der flämischen Volksunie (VU), dem Vorläufer der N-VA aktiv waren, an die Politik herangeführt worden war. Starkes Interesse hatte sie stets an der Europapolitik und der Arbeit im Europaparlament. Und während die anderen Fraktionen noch nach einem geeigneten Kandidaten für die Wahl des Parlamentspräsidenten suchen und rangeln, wurde Helga im Oktober von der EKR, der drittstärksten Fraktion im Europarlament, einstimmig nominiert.
„Helga bringt frischen Wind ins Parlament, ist eine unglaublich engagierte Persönlichkeit mit viel politischer Erfahrung. Sie vertritt ihre Positionen, was sie aber nicht daran hindert, sich offen und freundlich auf Diskussionen einzulassen. Sie steht für die Debattenkultur, die Europa so dringend braucht. Dabei ist sie bürgernah und eine Kämpferin, die aber weder ihr Lachen noch ihre Herzlichkeit verliert. Für sie zählt der Mensch und nicht die politische Scheuklappe,“ so der Europaabgeordnete Arne Gericke. Aus diesem Grunde habe er sie als Parlamentspräsidentin vorgeschlagen.
Mit solch einem Vorschlag, den Helga zunächst für ein wenig verrückt und einen Witz hielt, hatte sie überhaupt nicht gerechnet. Auch war sie sich nicht sicher, ob sie für solch ein Spitzenamt die richtige Wahl sei. Aber jetzt tut sie alles, um den deutschen Sozialdemokraten Marin Schulz als Parlamentspräsident abzulösen. Sie stehe für ein bürgernahes, ein familienfreundliches Europa, für eine Präsidentschaft, die die unterschiedlichen Fraktionen vereint statt sie zu spalten.
Nicht drn Mund halten
Eine Präsidentin für alle wolle sie sein, alle Fraktionen, auch die der Rechtspopulisten, die ja demokratisch gewählt worden seien, werde sie repräsentieren, so ihre klare Ansage. Helga moniert, dass sich politische Debatten im Europaparlament in einem undemokratischen Zustand befinden, und der amtierende Präsident Martin Schulz überwiegend Parteipolitik mache. „Hier im Europaparlament gibt es zwei große Fraktionen, die EVP und die S&D, die alles entscheiden, während sich die anderen Fraktionen entweder fügen oder ihren Mund halten müssen,“ sagt sie.
„Es wäre an der Zeit, Abgeordnete kleiner Fraktionen ernst zu nehmen, ihnen die Möglichkeit zu geben, ihren Wahlkreis zu vertreten, das sei ihr parlamentarisches Demokratieverständnis. Aktuell werde das Europaparlament von einigen aus Deutschland, Frankreich oder Luxemburg kommenden Männern regiert, aber Europa sei mehr. Auch dürfe es nicht sein, dass Abgeordnete und Bürger, die eine andere Meinung vertreten, geächtet, als bildungsfern, als Rechtsextremisten stigmatisiert oder gar lächerlich gemacht würden. Es käme nicht von ungefähr, dass sich Europas Bürger bei solch einer Abgehobenheit unverstanden fühlten. Und ohne je richtig zugehört zu haben, glaubten sie dann zu wissen, was für Europas Bürger richtig sei. Diese im Parlament stark verbreitete Verhaltensweise habe unterschwellig den Nährboden für einen Brexit vorbereitet.
Ihre Maxime: mehr auf Europas Bürger zugehen, sie ermuntern, motivieren, ihre Sorgen und Ängste ernst nehmen, und sich mehr an dem orientieren, was ihnen wichtig ist.
Trump mit positivem Einfluss?
Das jüngste Votum der amerikanischen Bürger respektiert sie. „Ob uns das Ergebnis gefällt oder nicht, in den Vereinigten Staaten handelte es sich um eine demokratische Wahl. Nun sage ich mir: „OK. – Trump hat gewonnen, und jetzt werden wir sehen, ob er seine Versprechen einlösen wird. Ich hoffe, dass sich die transatlantischen Beziehungen mit Europa weiter positiv entwickeln und nicht in eine handelspolitische Abschottung münden. Und wer weiß, vielleicht wird er einen positiven Einfluss auf Putin ausüben.“
Und wie steht es mit Helgas Wahlchancen? Dazu Arne Gericke gegenüber belgieninfo: „Seien wir realistisch: Im Januar geht es um die Halbzeitwahlen – und eigentlich ist das Mauschelpaket der beiden großen Fraktionen schon geschnürt: Nach der letzten Europa-Wahl war die Europäische Volkspartei (EVP) so freundlich, der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten (S&D) mit Martin Schulz den Vortritt zu lassen. Nach den ungeschriebenen Gesetzen ist nun die EVP an der Reihe. Dort aber liefert man sich hinter den Kulissen ein unschönes Gerangel der „zu Versorgenden“. Und ganz ehrlich: Je mehr sich die großen Fraktionen darauf ausruhen, Versorgungsposten für abgehalfterte Funktionäre zu schaffen, desto größer sind Helgas Chancen. Ich bin mir sicher: Ihre Wahl wäre ein gutes Zeichen für Europa.“
Sehr interessanter Artikel und natürlich eine sehr interessante Persönlichkeit!