
Von Jürgen Klute (Text) und Hanna Penzer (Fotos)
„Die rote Line für Gaza ziehen“ – unter diesem Motte hatte die internationale Dachorganisation für Solidarität „11.11.11“ am vergangenen Sonntag in Brüssel zu einer Demonstration zur Beendigung des Krieges in Gaza aufgerufen. Aus Belgien gehören der Organisation „11.11.11“ unter anderen Oxfam, „Broederlijk Delen“ und „Doctors of the World“ an.
Nach Angaben der Brüssler Polizei waren rund 70000 Menschen dem Aufruf gefolgt, die Veranstalter sprechen von etwa 110000 Teilnehmenden. Ohne Zweifel war es selbst für das bald täglich mit Demonstrationen konfrontierte Brüssel eine ungewöhnlich große Demonstration.
Die Demonstration begann gegen 14 Uhr am Nordbahnhof. Vorbei am Platz Rogier zog sie dann über den Innenstadtring ins Europaviertel bis zum Place Jean Rey. Dort sollte die Demonstration um 17 Uhr enden. Doch aufgrund der hohen Zahl von Teilnehmenden blieb der Verkehrsfluss in diesem Tiel Brüssel deutlich länger unterbrochen als geplant.
Die Demonstration verlief friedlich und war sowohl altersmäßig als auch kulturell sehr bunt – einschließlich unzähliger Musikanten. Die Brüsseler Polizei hat sich im Hintergrund gehalten und hat vor allem für die verkehrstechnische Absicherung des Demonstrationszuges gesorgt. Auffallend war der rote „Anstrich“ des Protestmarsches. Die Veranstalter hatten dazu aufgerufen, ganz im Sinne des Mottos, eine rote Linie für Gaza zu ziehen, möglichst rote Kleidung zu tragen. Dem waren viele nachgekommen. Plakate und Fahnen waren hingegen deutlich weniger zu sehen als etwas bei den Brüsseler Klimatischen vor ein paar Jahren.
Bemerkenswert war weiterhin, dass der Fokus der formulierten Forderungen auf der Beendigung des Krieges lag und damit der Beendigung der hohen Zahl ziviler Opfer durch Kriegshandlungen und Versorgungsmangel, die von den Veranstaltern als Genozids gewertet wurden. Zwar gab es vereinzelt auch direkte Kritik an der israelischen Regierung, antisemitische Plakate und Sprechchöre waren hingegen –zumindest im vorderen Teil des Zuges – nicht wahrnehmbar.
Laut der Webseite der Veranstalter war das Ziel der Demonstration, „Belgien und die Europäische Union sowie mitschuldige Unternehmen dazu zu drängen, keine militärische, wirtschaftliche und diplomatische Unterstützung für Völkermord zu leisten“.
Obgleich es in den EU-Institutionen schon länger eine Diskussion um geeignet Maßnahmen gegen Israel gibt, um dessen Regierung zu einem Ende des Krieges in Gaza zu drängen, kam es bisher – unter anderem auf Druck der Bundesregierung – zu keinen konkreten Maßnahmen. Allerdings hatte die aus Spanien kommende Vizepräsidentin der EU-Kommission, Teresa Ribera, Anfang September laut der in Wien erscheinenden Zeitung “Der Standard” das israelische Vorgehen in Gaza als Völkermord bezeichnet. Die Kommission hat sich von dieser Aussage jedoch distanziert, wie Euro-News kurz darauf berichtete.
Auch in der belgischen Föderalregierung wurde wochenlang darüber diskutiert, welche Maßnahmen ergriffen werden sollten. Während sich die flämischen Christdemokraten (CD&V), die französischsprachigen Christdemokraten (Les Engagés) und die flämischen Sozialdemokraten (Vooruit) für eine Anerkennung Palästinas aussprachen, zeigten sich die beiden anderen Regierungsparteien, die französischsprachigen Liberalen (MR) und die flämischen Nationalisten (N-VA) lange sehr zurückhaltend, bis man sich Anfang September auf Sanktionen gegen Israel sowie auf eine bedingte Anerkennung Palästinas einigen konnte. Ziel der Anerkennung ist es, den politischen Druck in Richtung einer Zwei-Staaten-Lösung zu erhöhen.
Die „Red-Line-Demonstration“ vom Sonntag zielte auch darauf zu verhindern, dass N-VA und MR die Bedingungen für eine Anerkennung Palästinas als Hintertür zu einem späteren Ausstieg aus dem Beschluss nutzen. Dem entsprechend waren auch Plakate zu sehen, die deutliche Kritik an diesen beiden Parteien der Föderalregierung zum Ausdruck brachten. Als Bedingungen für eine Anerkennung Palästinas nennt die belgische Regierung die Freilassung aller Geiseln vom 7. Oktober 2023 und den Ausschluss der Hamas aus der palästinensischen Regierung.
Die zweite Bedingung hat der frühere belgische Außenminister und EU-Kommissar Karel De Gucht in einem Interview in der belgischen Zeitung “De Morgen” kritisiert.
De Gucht, der eine Anerkennung Palästinas befürwortet, findet diese Bedingung „heuchlerisch“, da sie „kein stichhaltiges Argument“ sei. „Um einen Staat anzuerkennen,“ so der flämische Liberale weiter, „müssen drei Bedingungen erfüllt sein. Das Land muss geografische Grenzen haben. Es muss eine Bevölkerung haben. Und es muss eine Regierung geben. Dass die Hamas verschwinden oder entwaffnet werden muss, darf also nichts mit dieser Anerkennung zu tun haben. Ich finde es auch eine gute Idee, dass die Hamas entwaffnet wird, darum geht es hier nicht. Ich spreche jetzt vom Recht”, sagte De Gucht. Selbst wenn Belgien eine Diktatur werden würde, erläuterte der flämischen würde das nicht zu einer Aberkennung der Anerkennung Belgiens als Staate führen.
Auch zur Frage, ob Israel einen Völkermord in Gaza verübt, hat De Gucht sich deutlich geäußert: „Dort findet ein regelrechter Völkermord statt. Und warum nenne ich es Völkermord? Weil dahinter eine Absicht steckt. Es ist die Absicht Israels, zumindest dieser Regierung, die Bewohner Gazas dort wegzubekommen. Ich kann verstehen, dass es Deutschland schwerfällt, das zu sagen, schließlich hat in diesem Land der Holocaust stattgefunden. Aber warum Belgien das nicht mit deutlichen Worten verurteilen kann, ist mir ein Rätsel.“
Diese Einordnung des Vorgehens der israelische Armee in Gaza hat in letzter Zeit vermehrt Unterstützung erfahren – und die Ambitionen des amerikanischen Präsidenten Donald Trump, die Palästinenser aus Gaza zu vertreiben, um dort ein Luxus-Touristen-Ressort zu etablieren, entkräften diese Einordnung nicht gerade. So hatte der renommierte jüdische Genozid-Forscher Omer Bartov in einem Interview mit der “New York Times” Mitte Juli 2025 erklärt, dass aus seiner Sicht als Genozid-Forscher eindeutig von einem Völkermord in Gaza auszugehen sei.
Auch die „International Association of Genocide Scholars“ (IAGS) hat sich in einer Erklärung vom 31. August dieser Einschätzung zugestimmt. Allerdings berichtete die deutsche Tageszeitung taz (https://taz.de/Israels-Krieg-in-Gaza/!6107904&) zwei Tage nach Veröffentlichung der Erklärung, dass Melanie O’Brien, die Präsidentin der IAGS, mitgeteilt habe, die Resolution sei mit einer Mehrheit von 86 Prozent der abstimmenden Mitglieder verabschiedet worden, doch, so heißt es weiter in der taz, nur 28 Prozent der 500 Mitglieder der IAGS hatten sich an der Abstimmung beteiligt.
Zurückhaltender – wenn auch aus teils pragmatischen Gründen – äußerte sich hingegen die ebenfalls renommierte kanadische Oxford-Historikerin Margaret MacMillan Ende August in einem Interview mit “De Morgen”: „Nein, auch wenn das Gefühl, dass das, was Israel heute in Gaza tut, falsch ist, eindeutig vorherrscht. Ich schließe mich hier dem angesehenen Rechtsprofessor Philippe Sands an, der argumentiert, dass es derzeit effektiver ist, Anklagen wegen Kriegsverbrechen zu erheben als wegen Völkermordes. Diese sind leichter zu beweisen, wenn die internationale Gemeinschaft jetzt rechtliche Schritte gegen das Vorgehen in Gaza einleiten will. Das Problem bei Völkermord ist immer, dass man die Absicht nachweisen muss, und das ist schwierig.“
Dass das Vorgehen Israels in Gaza gegen das humanitäre Völkerrecht verstößt, ist mittlerweile unstrittig. Ob es sich darüber hinaus auch um eine Verletzung der UN-Völkermord-Konvention von 1948 handelt, müssen letztlich die zuständigen Richter des Internationalen Strafgerichtshofes (ICC) in Den Haag beurteilen und entscheiden.
Dessen ungeachtet sind die Forderungen der Demonstranten vom Sonntag gerechtfertigt, den Krieg und vor allem das Leiden der Zivilbevölkerung in Gaza endlich zu beenden. Und nur ein Ende des Krieges dürfte auch das Leiden der israelischen Geiseln, die noch in Gefangenschaft der Hamas sind, beenden.
Fotogalerie: „Die rote Line für Gaza ziehen“ (7. 9. 2025, Brüssel)
Fotos: Hanna Penzer







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