Es betrifft uns in Belgien schon rein geografisch aus nächster Nähe, was in Griechenland passiert. Denn schließlich beherbergen wir die europäischen Institutionen: Entscheidungen über das Wohl und Wehe der EU werden direkt vor unserer Haustür, am Beginn der Brüsseler Wetstraat/Rue de la Loi und am Ende der Belliardstraat/Rue Belliard getroffen. Deshalb kommentiert Marion Schmitz-Reiners einmal nicht die belgische Innenpolitik, sondern das „Nein“ der Griechen zu den Sparplänen der EU.
Wussten die Griechen eigentlich genau, wofür oder wogegen sie gestimmt haben? Vermutlich nicht. Mit Sicherheit waren die allermeisten Griechen, die bei dem Referendum vom vergangenen Sonntag das „Oxi“ angekreuzt hatten, emotional gesteuert. Sie fühlten sich von Brüssel und Berlin dominiert und verraten: Sie stehen einer kalten „Eurogruppe“ gegenüber, in der es nur noch um Bilanzen, Schulden, Zinsen, EZB oder IWF geht.
Und das genau ist das Problem. Die Idee eines humanistisch geprägten Abendlandes ist schon lange Vergangenheit. Es geht nicht mehr um Solidarität, um westliche – und vielleicht sogar christlich – geprägte Werte oder um ein gemeinsames Kulturerbe. Die Fernseh-, Presse- und Hörfunknachrichten sind zum allergrößten Teil zu Wirtschaftsnachrichten degeneriert und auch viele politische Talkshows sind nur noch Insidern verständlich. Nicht alle Europäer begreifen, wie die Börse, die Europäische Zentralbank oder der Internationale Währungsfonds funktionieren. Und die Staatsschulden vieler europäischer Länder übersteigen das menschliche Begriffsvermögen und sind zu rein theoretischen Größen geworden.
Selten hat man in den letzten Wochen auf den Politikeretagen einmal ein Wort des Mitleids mit den leidenden griechischen Menschen vernommen. Immer waren sie es selber schuld, dass sie dermaßen in die Misere abgeglitten sind. Denn sie sind halt anders als – beispielsweise – die Deutschen: irgendwie korrupter, orientalischer, unzuverlässiger. Dankbar muss man dem Fotografen sein, der geistesgegenwärtig auf den Auslöser drückte, als ein griechischer Rentner vor der Tür einer Bank weinend zusammenbrach. „Ein Bild bewegt die Welt“, schrieb das Handelsblatt. Immerhin etwas.
Wie viele Länder gibt es auf dem Globus, die wirtschaftlich keinen Fuß auf den Boden bekommen? Da braucht man gar nicht auf Afrika zu schauen, da reicht ein Blick auf den westlichen Balkan. Auch dort bereichern sich mafiose Oligarchien und leben Menschen in bitterster Armut. Das ist für uns sozusagen Gemeinwissen geworden. Aber dass so etwas auch in einem – in der Rückschau wahrscheinlich vorschnell aufgenommenen – EU-Land passieren kann, das erfüllt uns mit Fassungs- und Verständnislosigkeit.
Für den kleinen Gemüseverkäufer in, sagen wir einmal, Epirus ist Brüssel fern und fremd. Und es werden nicht die vielen steinreichen Griechen gewesen sein, die gegen die EU gestimmt haben, worauf das „Oxi“ schließlich hinausläuft. Es ist höchste Zeit, dass die EU-Institutionen sich darauf besinnen, dass Europa mehr ist als eine Gemeinschaft von Staaten, die erstens zu sparen und zweitens wirtschaftlich zu prosperieren haben. Unzweifelhaft ist, dass Europa Griechenland massiv unterstützt hat, immer in der Hoffnung, dass es aus dem Sumpf gerät. Aber dass diese Hoffnung in Rauch aufgegangen ist, sollte kein Anlass zu weiterer Verdammung sein, sondern der Anfang eines neuen Weges, der lange und sorgfältig überlegt sein will, wobei man auch die Hilfe beim Ausstieg aus der EU nicht ausschließen kann. Alles ist irgendwann zum ersten Mal. Und das ist vielleicht auch eine Chance: für ein Europa, das sich neu seiner Werte besinnt, auch der immateriellen.
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