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Belgiens politischer Flickenteppich

Foto: J. Klute

Eine Kommunalwahl mit Überraschungen und Enttäuschungen/ Bart De Wevers überzeugender Sieg in Antwerpen/ Erster Bürgermeister für Vlaams Belang/ Dämpfer für Bouchez und Rousseau/Neuer Schwung für Gespräche über Arizona-Koalition/ Kontroverse um Aufhebung der Wahlpflicht in Flandern

Von Michael Stabenow

Ein Ergebnis der belgischen Kommunalwahl dürfte auch über die Landesgrenzen hinaus wahrgenommen werden. Erstmals hat der rechtsradikale Vlaams Belang (VB) ein Bürgermeisteramt erobert. In Ninove, einer gut 25 Kilometer westlich von Brüssel in der Provinz Ostflandern gelegenen Stadt mit rund 40000 Einwohnern, eroberte die von Guy D´haeseler, einem Mitglied des flämischen Regionalparlaments, geführte Liste „Forza Ninove“ eine absolute Mehrheit von 18 der 35 Sitze im Gemeinderat.

Für die Zukunft des Königreichs dürfte das Ergebnis in Antwerpen schwerer wiegen. Mit seinem eindrucksvollen Sieg in der Hafenstadt ist der Parteivorsitzende der nationalistischen Neu-Flämischen Allianz (N-VA), der seit 2013 amtierende Bürgermeister Bart De Wever, dem Posten des belgischen Regierungschefs einen großen Schritt nähergekommen.

Neuer Schwung auf dem Weg zur sogenannten Arizona-Koalition

Wegen des Kommunalwahlkampfs hatten die Gespräche zu Bildung einer sogenannten Arizona-Koalition seit Wochen auf Eis gelegen. Bei einem Treffen mit den Parteichefs der voraussichtlichen Bündnispartner, den flämischen Sozialisten (Vooruit) und Christdemokraten (CD&V) sowie den französischsprachigen Liberalen (MR) und der Zentrumspartei Les Engagés, will De Wever am Mittwoch den Gesprächsfaden wieder aufnehmen. Die neue belgische Regierung könnte, so zumindest die Hoffnung, im Dezember ihr Amt antreten

Trend der Wahlergebnisse vom Juni weitgehend bestätigt

Insgesamt bestätigte sich der Trend der föderalen und Regionalwahlen von Juni mit Zugewinnen für den Vlaams Belang und Vooruit im  Norden sowie MR und Les Engagés im französischsprachigen Teil des Landes (Vlaanderen kiest | Vlaanderen.be. Vlaanderen kiest | Vlaanderen.be Élections communales – 13 octobre 2024 | Élections communales – 13 octobre 2024 | Elections communales 2024  Wahlen vom 9. Juni 2024: Alle Ergebnisse – BRF Nachrichten).  Verlierer sind vor allem die Grünen (Groen und Ecolo), die flämischen Liberalen (Open VLD) des noch amtierenden belgischen Regierungschefs Alexander De Croo sowie die einst in Wallonien übermächtigen Sozialisten (PS).

Foto: J. Klute

Ein politischer Flickenteppich

Dennoch gleicht das Land am Tag nach der Wahl einem politischen Flickenteppich. Gerade nach Kommunalwahlen, bei denen örtliche Gegebenheiten naturgemäß eine größere Rolle spielen, lässt sich der Blick leichter auf lokale Erfolge lenken. Selbst die Grünen, die sämtliche bisherigen Bürgermeisterämter verloren haben, verwiesen auf Lichtblicke. So erzielte Groen zum Beispiel in der Großstadt Gent rund ein Viertel der abgegebenen Stimmen. Die Partei musste sich jedoch dem voraussichtlich im Amt verbleibenden liberalen Bürgermeister Matthias De Clercq beugen, dessen Partei eine Listenverbindung mit den Sozialisten eingegangen war.

Mit Spannung wurden die Ergebnisse in den 19 Brüsseler Gemeinden mit ihrer sehr unterschiedlichen Bevölkerungsstruktur erwartet. Die am linken politischen Rand stehende PTB/PVDA und das vor allem von Wählern mit Migrationshintergrund unterstützte „Team Fouad Ahidar“, geführt von einem früheren Vooruit-Mitglied, gruben der Konkurrenz von PS, aber vor allem Ecolo/Groen in einigen Stadtteilen wie der Gemeinde Brüssel, Molenbeek-Saint-Jean, Anderlecht und Schaerbeek kräftig das Wasser ab.

Sozialisten in Brüssel gewinnen Bürgermeisterämter hinzu

Dennoch zeigte sich nach einer Reihe nächtlicher Gespräche ein für die bei den Regionalwahlen im Juni vom MR überflügelten Sozialisten ein durchaus erfreuliches Bild. Sie behaupteten, wenn auch in Koalitionen, die Bürgermeisterämter in der Gemeinde Brüssel, in Saint-Gilles, Anderlecht, (voraussichtlich) Molenbeek-Saint-Jean (in einer Koalition mit PTB/PVDA) sowie – jetzt mit absoluter Mehrheit der Sitze – in Koekelberg und Evere. Über sozialistische Bürgermeister werden künftig auch die großen Gemeinden Ixelles und Schaerbeek verfügen, wo die Amtsinhaber von Grünen und der regionalistischen Partei Défi ihre Posten räumen müssen.

Kein Bürgermeisteramt mehr für die Grünen

Die Grünen verloren den Bürgermeisterposten auch in Forest sowie vor allem in ihrer langjährigen Hochburg Watermael-Boitsfort im wohlhabenden Süden der Stadt. Dort hat fortan der MR, wie auch weiter im westlich davon gelegenen Uccle, das Sagen. Noch offen war zunächst, ob im bisher sozialistisch regierten Forest künftig der MR das Sagen haben wird. Am anderen Ende der Stadt, in Auderghem sowie in Woluwé Saint-Lambert, konnte sich die in den meisten Gemeinden arg gerupfte Partei Défi in den Bürgermeisterämtern behaupten.

Les Engagés besetzt weiter die Spitzenpositionen in vier der 19 Brüsseler Gemeinden (Woluwé-Saint-Pierre, Jette, Berchem-Sainte-Agathe und Ganshoren). Einen Sonderfall stellt Saint-Josse-ten-Noode dar, flächenmäßig die kleinste der 19 Brüsseler Gemeinden mit gut 27000 Einwohnern. Dort konnte der bis 2020 der PS angehörende, nach einem Treffen mit türkischen Bürgermeistern, darunter auch vom rechten politischen Rand, jedoch aus der Partei ausgeschlossene Emir Kir, seit zwei Jahrzehnten im Amt, sogar die absoluten Mehrheit der Stimmen mit seiner Liste gewinnen.

Foto: J. Klute

Der Brennpunkt Antwerpen 

Im Brennpunkt in Flandern stand die Wahl in Antwerpen. Dort hatten Umfragen zuletzt auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen der N-VA von Bürgermeister De Wever und der linkspopulistischen PVDA hingedeutet. Am Wahlabend lag die N-VA mit 37,2 Prozent meilenweit vor der PVDA, auch wenn diese von 8,7 auf 20,2 Prozent zulegen konnte. Da die Grünen von 18,1 auf 10,7 Prozent zurückfielen, dürfte die N-VA – voraussichtlich mit der 35 Jahre alten Els van Doesburg als Bürgermeisterin statt des wohl gen Brüssel ziehenden De Wever – in einer Zweierkoalition mit den um 1,4 Prozent auf knapp 13 Prozent leicht verbesserten Sozialisten in den kommenden sechs Jahren weiterregieren.

Drei Erklärungen für De Wevers Wahlsieg

Wie erklärt sich der abermalige Wahlsieg De Wevers? Dass am Vorabend eine Fernsehdebatte mit den Vorsitzenden von sieben Parteien stattfand, spielte dem vor den Kameras gewohnt pointiert formulierenden N-VA-Spitzenmann zweifellos in die Hände. Die politische Polarisierung in Antwerpen trug dazu bei, die bürgerliche Konkurrenz fast gänzlich aus dem Stadtbild verschwinden zu lassen. CD&V kam gerade noch auf 3,4 Prozent, Open VLD sogar nur auf 2,3 Prozent der Stimmen.

Der Antwerpener PVDA-Spitzenkandidat Jos D´Haese machte für das unter den Erwartungen gebliebene Ergebnis seiner Partei insbesondere die in Flandern bei Kommunalwahlen nicht mehr geltende Wahlpflicht verantwortlich. Viele jüngere Wähler seien deshalb nicht in die Stimmlokale gegangen. Tatsächlich lag die Wahlbeteiligung in Flandern nur noch bei 64 Prozent – gegenüber 93 Prozent im Jahr 2018. Traditionell ignoriert ein Teil der belgischen Wähler die Wahlpflicht. Bei der Fernsehdebatte am Samstagabend hatte sich eine Mehrheit der Parteichefs für die Wiedereinführung der Wahlpflicht ausgesprochen. Für die Beibehaltung des jetzt erstmals erprobten Systems sind die Liberalen und De Wever. Er begründet dies damit, dass man Menschen nicht dazu zwingen dürfe, das Recht der freien Meinungsäußerung auszuüben.

Dämpfer für MR-Chef Georges-Louis Bouchez im heimatlichen Mons

In Wallonien waren die Blicke nicht zuletzt auf die Stadt Mons gerichtet. Der dort beheimatete MR-Parteichef Georges-Louis Bouchez hatte gehofft, mit flotten Sprüchen und der ehemaligen Schönheitskönigin Julie Taton (die aber keinen Hauptwohnsitz in der Stadt aufweisen konnte), den mehr seit sieben Jahrzehnten dominierenden Sozialisten das Amt des Bürgermeisters zu entreißen. Trotz eines stattlichen Zugewinns stand der sonst so mitteilsame Bouchez, der sich am Wahlabend stundenlang in Schweigen hüllte, abgeschlagen hinter den Sozialisten mit leeren Händen da. Anderswo erzielten MR und vor allem Les Engagés deutliche Zugewinne. Die Sozialisten verloren zwar die Kontrolle über Tournai und eine Reihe kleinerer Gemeinden; sie konnten sich aber in den größten Städten Charleroi (mit der absoluten Mehrheit der Sitze) und Lüttich in den Rathäusern behaupten.

Vooruit-Chef Rousseau und N-VA-Spitzenfrau Demir gehen leer aus

Nicht nur für Bouchez endete der Wahltag mit einem Dämpfer. Die stellvertretende flämischen Ministerpräsidentin Zuhal Demir (N-VA) hatte den Wählern im knapp 70000 Einwohner zählenden limburgischen Genk zugesagt, ihr Regierungsamt aufzugeben, sollte ihr der Sprung ins Bürgermeisteramt gelingen. Demir landete weit abgeschlagen hinter Amtsinhaber Wim Dries (CD&V). Vooruit-Chef Conner Rousseau zog im heimatlichen Sint-Niklaas, ungeachtet einer Verdopplung des Stimmenanteils auf über 25 Prozent, gegen den N-VA-Bürgermeiser Lieven Dehandschutter den Kürzeren.

Viel Grund zur Freude gab es für die Sozialisten dagegen in der Hafenstadt Ostende, wo der frühere Parteichef John Crombez deutlich den liberalen Amtsinhaber Bart Tommelein distanzierte, sowie in der Universitätsstadt Löwen. Unter ihrem populären Bürgermeister legte Vooruit um 15,7 Prozentpunkte auf 41,7 Prozent zu und verfehlt mit 23 von 47 Mandaten die Mehrheit der Sitze im Rathaus nur knapp. Und im ostflämischen Brakel konnte sich der noch amtierende liberale Premierminister darüber freuen, mit seiner Liste die absolute Mehrheit im Gemeinderat erreicht zu haben.

 

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