Aktuell, Europa

Bekenntnisse in Aachen zu Toleranz und einem stärkeren Europa

Pinchas Goldschmidt und die Konferenz der europäischen Rabbiner mit dem Internationalen Karlspreis ausgezeichet/ Mahnungen von vier früheren Preisträgern

Von Michael Stabenow

Alle Jahre wieder an Himmelfahrt wird im Krönungssaal des Aachener Rathauses der Internationale Karlspreis vergeben. Preisträger sind in diesem Jahr der Präsident der Konferenz der Europäischen Rabbiner, Pinchas Goldschmidt, und – generell – die jüdische Gemeinschaft in Europa. Es ist kein Zufall, dass das Direktorium des Preises nach dem mörderischen Überfall durch Kämpfer der in zahlreichen Staaten als terroristisch eingestuften Hamas-Organisation auf israelische Bürger im vergangenen Oktober jetzt abermals ein Zeichen setzen will.

Mit dem Karlspreis wird nicht nur das Engagement Goldschmidts und der 800 Mitglieder zählenden Rabbinerkonferenz für europäische Grundwerte und Toleranz gewürdigt. „Zugleich setzt das Direktorium das Signal, dass jüdisches Leben selbstverständlich zu Europa gehört und in Europa kein Platz für Antisemitismus sein darf“, erklärte Sibylle Keupen, die Oberbürgermeisterin Aachens, in einem Grußwort.

Der Preisträger traf am Vorabend der Auszeichnung im Rathaus der Stadt mit den Teilnehmern des alljährlich der Zeremonie vorgeschalteten Karlspreis-Europa-Forums zusammen. Goldschmidt würdigte die dem „europäischen Projekt“ innewohnenden Grundwerte von Freiheit, Demokratie und Pluralismus und sagte: „Ohne diese Werte gibt es keine Zukunft in Europa.“

In einem Gespräch mit dem schweizerischen Journalisten und früheren Chefredakteur der Wochenzeitung „Die Zeit“, Roger de Weck, bewertete Preisträger Goldschmidt die Folgen des Hamas-Angriffs als eine Art Weckruf für die jüdische Gemeinschaft. Einerseits sei es auch für die Angreifer überraschend gewesen, in so kurzer Zeit so viele Opfer auf israelischer Seite zu machen. Für Israel habe dies jedoch auch bedeutet: „Betrachten Sie die Existenz des jüdischen Staats nicht als etwas Gegebenes.“ Die Annahme von Hamas, die Gegensätze innerhalb der israelischen Gesellschaft für sich nutzen zu können, habe sich nicht als stichhaltig erwiesen, weil die Menschen in Israel angesichts der Ereignisse am 7. Oktober 2023 wieder enger zusammengerückt seien.

Goldschmidt, der 2022 nach 33 Jahren Russland verlassen musste, bekannte sich nachdrücklich zum Dialog. Dieser sei im Übrigen viel wichtiger mit Gesprächspartnern, mit denen man nicht einer Meinung sei. Auf die Frage de Wecks, was er zu der in das Jahr 2017 zurückgehenden Bezeichnung des Berliner Holocaust-Mahnmals als „Denkmal der Schande“ durch den Thüringer AfD-Spitzenmann Björn Höcke sage, antwortete der Oberrabbiner: „Ich bin sehr glücklich, dass alle Parteien außer der AfD vollkommen anderer Auffassung sind.“

Vor dem Auftritt Goldschmidts hatten beim Europa-Forum vier frühere Preisträger mit Vertreterinnen und Vertretern der jüngeren Generation über aktuelle Herausforderungen der europäischen Einigung diskutiert. Dalia Grybauskaité, frühere litauische Präsidentin und Preisträgerin des Jahres 2013, sprach sich leidenschaftlich für eine baldige Aufnahme der Ukraine in die Europäische Union aus. Sie äußerte jedoch auch die Befürchtung aus, dass Jahrzehnte zu vergehen drohten, bis die „Konfrontation mit Russland“ überwunden werden könne.

Pat Cox, früherer irischer Präsident des Europäischen Parlaments und Preisträger des Jahres 2004, verwies darauf, dass die mit dem EU-Beschluss vom vergangenen Dezember konkreter gewordene Beitrittsperspektive für die Ukraine Anreize schaffe, die für eine Mitgliedschaft notwendigen Reformen zu verwirklichen. Er erinnerte aber auch daran, dass das Wohlstandsgefälle zwischen den heutigen 27 Mitgliedstaaten und der Ukraine nach einem Beitritt mit erheblichen finanziellen Anstrengungen einhergehen werde. Als problematisch bewertete es Cox auch, dass nach dem russischen Angriff bis auf weiteres keine Klarheit darüber bestehen, in welchen Grenzen die Ukraine effektiv der EU beitreten könne.

Grybauskaité, Cox und Jean-Claude Trichet, früherer Präsident der Europäischen Zentralbank und Preisträger des Jahres 2011, sehen es in der aktuellen Kriegssituation in der Ukraine, aber auch angesichts der ungewissen Entwicklung in den Vereinigten Staaten im Zeichen der kommenden Präsidentschaftswahl als vorrangig an, in der EU die sicherheits- und verteidigungspolitische Zusammenarbeit erheblich zu verstärken.

Trichet sprach sich sogar für eine „Politische Föderation“ aus, ohne allerdings diesen Begriff zu erläutern. Der Euro sei einst von seinen Landsleuten nur mit einer hauchdünnen Mehrheit von 51,1 Prozent gutgeheißen worden. Heute sei das Stimmungsbild vollkommen anders: „In Frankreich fordert niemand einen Frexit (Austritt Frankreichs aus der EU, Anm. der Redaktion) oder die Aufgabe des Euro“, sagte Trichet.

Mangelnde Handlungsfähigkeit der EU beklagte in der Diskussionsrunde Veronica Tsepkalo, eine von drei – oppositionellen – belarussischen Preisträgerinnen des Jahrs 2022. Anders als bei den Unruhen im Jahr 2020 mangele es an Unterstützung der in ihrer Heimat immer stärker in Bedrängnis geratenen oppositionellen Kräfte. „Es dauert Ewigkeiten, zu irgendwelchen Beschlüssen zu kommen“, beklagte Tsepkalo.

Weitreichende Einigkeit bestand in der Runde der Preisträger darüber, dass in Zeiten der – nicht nur von der jüngeren Generation genutzten – „sozialen Medien“ politische Überzeugungsarbeit für Politiker schwerer geworden sei. Grybauskaité, die daran erinnerte, dass sie schon vor einem Jahrzehnt eindringlich vor den zunehmenden Spannungen mit Russland gewarnt habe, nannte als Voraussetzung erfolgreicher politischer Kommunikation, „wahrheitsgemäß“ und „überzeugend“ zu argumentieren. „Zielen Sie direkt auf Emotionen“, sagte die litauische Politikerin.

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