Panorama

Auf die Tauben kommt es an – Belgien und die Colombophilie

© DR – L’Indépendant du Midi

Von Reinhard Boest

Ende Juli ging eine Meldung durch die Presse in Frankreich und Belgien: Im südfranzösischen  Narbonne waren 26000 Brieftauben bei einem internationalen Wettbewerbs zu einem Langstreckenflug nach Belgien gestartet (Foto oben). Leider gerieten sie kurz nach dem Abflug in ein Unwetter, so dass Tausende die Orientierung verloren und vom Weg abkamen oder ganz verloren gingen.

Warum ist das einen Artikel in « Belgieninfo » wert? Fast die Hälfte der Tauben kamen aus Belgien, und der Wettbewerb wurde von einem Züchterverein aus Lüttich organisiert – gut 800 Kilometer Luftlinie von Narbonne entfernt. Dafür waren die Tauben mit mehreren Spezial-Lastwagen an den Abflugsort gebracht worden.

Belgien ist das Mutterland der « Colombophilie »; unter diesem Begriff werden die Zucht und die Ausrichtung von (lokalen, regionalen, nationalen und internationalen) Wettbewerben zusammengefasst. Die erste Erwähnung geht auf das Jahr 1784 in Verviers zurück, die Ausübung als Sport begann um 1820 in Lüttich und verbreitete sich von dort in die Niederlande und nach Deutschland, später auch nach Nordfrankreich. In Deutschland liegt der Schwerpunkt im Ruhrgebiet, wo die Taube als « Rennpferd des kleinen Mannes » gilt.

Seit Beginn des 19. Jahrhunderts und bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Nachrichtenübermittlung durch Brieftauben auch militärisch genutzt. In Suresnes bei Paris unterhält das französische Verteidigungsministerium ein Museum über das Brieftaubenwesen in der Armee. Paul Julius Reuter, der Gründer der gleichnamigen Nachrichtenagentur, ließ 1850 Nachrichten aus Brüssel durch Brieftauben zum Gründungshaus des Unternehmens in der Aachener Pontstraße überbringen. Antwerpener Kaufleute ließen auf ihren Schiffen Brieftauben transportieren, die wenige Tage vor der Rückkehr in den Hafen aufgelassen wurden und Informationen über die geladenen Waren überbrachten; wenn das Schiff einlief, waren diese bereits verkauft. Mit 25000 Brieftauben galt Antwerpen 1846 als « Taubenhauptstadt der Welt ».

Die Zucht und die Auswahl von Brieftauben wird in Belgien besonders intensiv betrieben. Die belgischen Brieftaubenrassen gelten daher als die besten der Welt. Hinzu kommt ein intensives Training; es dauert rund drei Jahre, bis eine Taube für Langstreckenflüge einsetzbar ist. Das zeigt sich auch an den Preisen, die für einzelne Tiere erzielt werden: im Jahr 2020 zahlte ein chinesischer Käufer 1,6 Millionen Euro für eine belgische Taube, die die nationale Meisterschaft gewonnen hatte. Brieftauben werden weltweit in Auktionen gehandelt, zunehmend im Internet.

Eine vollständige wissenschaftliche Erklärung des « Heimfindevermögens », also der Fähigkeit, den Weg zurück zum Heimatschlag zu finden, ist bis heute nicht gelungen. Möglicherweise nutzen Brieftauben wie Zugvögel den Stand von Sonne und Sternen, Gerüche sowie das Magnetfeld der Erde für die Orientierung.

In Belgien geht man von rund 70000 « Colombophilen » aus, von denen etwa 21000 aktiv sind. Sie sind in lokalen Klubs organisiert, Dachorganisation auf nationaler Ebene ist die « Fédération Royale Colombophile Belge/Koninklijke Belgische duivenliefhebbersbond », die vor allem die Wettbewerbe organisiert. Für die jährliche Meisterschaft müssen die Tauben, nach Altersgruppen getrennt, eine bestimmte Anzahl von Flügen unterschiedlicher Länge (Kurz-, Mittel-, Langstrecke über 600 Kilometer) zurücklegen. Die Flüge finden in der Regel zwischen April und September statt. Der Flug von Narbonne nach Belgien war einer dieser Wettbewerbe.

Ein Beleg für die Bedeutung der Colombophilie als besondere belgische Tradition war der 2020 geborene Plan, diese als immaterielles Kulturerbe der UNESCO eintragen zu lassen. Bisher ist ein entsprechender Antrag aber nicht eingereicht worden. In Frankreich ist die Colombophilie im Département Nord in die nationale Liste des immateriellen Kulturerbes aufgenommen worden.

Die Taubenzüchter leiden in Belgien, genau wie in Deutschland und Frankreich, zunehmend unter Nachwuchssorgen. Die Zahl der Aktiven ist rückläufig. Die Zeiten, in denen im belgischen Radio an jedem Wochenende spezielle Wettervorhersagen für die Flugwettbewerbe der « Colombophiles » gesendet wurden, sind lange vorbei. Heute wächst die Zahl der Taubenliebhaber nur in einem Land: in China. Die Fédération Internationale Colombophile hat ihren Sitz trotzdem noch immer in Brüssel.

Zurück zu dem tragischen Ausgang des Wettflugs von Narbonne. Der Präsident des belgischen Verbands, Pascal Bodengien, bedauerte gegenüber dem flämischen Sender VRT die hohen finanziellen Verluste, aber auch die emotionellen Folgen für viele Züchter. Selbst wenn einige vom Weg abgekommene Tauben dank der Beringung wiedergefunden werden könnten, sei eine große Anzahl verloren. Viele Züchter könnten daher in den nächsten Jahren nicht an renommierten internationalen Wettbewerben teilnehmen. Der Vorfall führte im Verband zu heftigen Diskussionen und Rücktrittsforderungen an die für die Organisation des Flugs Verantwortlichen des Lütticher Klubs. Selbst die wallonische Umweltministerin Céline Tellier, die auch für das Tierwohl zuständig ist, wurde befasst. Auf ihre Initiative wird die Universität Lüttich eine Studie über das Wohlergehen der Tauben während der Wettbewerbe ausarbeiten.

Am Ende gab es immerhin einen Gewinner: eine Taube des belgischen Züchters Josep Liegois erreichte ihren Heimatschlag am schnellsten; sie benötigte für die 816 Kilometer lange Strecke bei einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 64 Stundenkilometern rund zwölf Stunden.

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