Aktuell, Belgischer Alltag

Achtung, Fahrgast hört mit!

© STIB/MIVB

Von Michael Stabenow

Eigentlich sollte man stets Ohrenstöpsel, zumindest aber Kopfhörer dabei haben, wenn man dieser Tage einen Bus oder eine Bahn besteigt und ein wenig abschalten will. Meist habe ich weder das eine noch das andere eingesteckt – dafür bin ich aber inzwischen um viele und Lebensweisheiten reicher. Ja, ich bin gleich inmitten des Geschehens. Oft vergehen nur wenige Sekunden, bis ich, ob ich es nun will oder nicht, mir anhören darf oder muss, was manch Mitreisende in ihrem Mitteilungsdrang nicht nur den Lieben daheim, sondern auch Freunden, Verwandten und offenbar auch Wildfremden in der Ferne per Smartphone mitzuteilen haben.

Soeben ist eine etwas nervös wirkende junge Frau zugestiegen. Sie lässt sich auf die erste Bank, zwei Reihen vor mir, fallen. Und schon geht es los. Unüberhörbar ruft sie ins Display: „Ich hatte einen Zahnabzess. Aber wie heißt der Zahnarzt, der mich behandelt hat?“ Leider bekommen weder sie noch die Mitreisenden – Achtung, Fahrgast hört mit! – des Rätsels Lösung mit.

Es gibt offenbar Verständigkeitsschwierigkeiten, sie wählt nochmals die Nummer. „Verstehen Sie mich jetzt besser“ schreit sie mehrfach. Wie es ausgegangen ist, werden wir, ob es uns nun interessiert oder auch nicht, nie erfahren. Hektisch wirkend steigt die offenkundig leidgeprüfte Zahnarztpatientin an einer der nächsten Haltestellen aus.

Schon auf der Hinfahrt am Morgen habe ich ein paar Wortfetzen einer Mitreisenden aufgefangen. „Ah, c’est chouette“, vertraut eine schräg gegenüber sitzende Frau mit Nachwuchs im Kinderwagen nicht nur ihrem Telefon an. Was so „chouette“ sein soll, darüber können wir nur mutmaßen. Immerhin bekommen wir mit, dass das Kleinkind derweil vergnügt vor sich hin kräht.

Allo, allo“, erklingt es auf der Nebenbank – irgendwann klappt es dann doch mit der Verbindung. „Ja, wir werden es sehen, wenn ich da bin. Bis gleich. Ciao“, höre ich und denke: Das war aber kurz und bündig!

Einer Dauerbeschallung von mehreren Seiten werde ich oft ausgesetzt, wenn ich eine der engen Brüsseler Straßenbahnen betrete. Manchmal gehe ich einem Zeitvertreib nach und zähle, wie hoch der Anteil der Mitpassagiere mit obligatorischem Handy zur Hand ist (meist eine deutliche Mehrheit), wie viele in ein Buch schauen (der oder die eine oder andere) oder eine Zeitung lesen (fast niemand mehr – erst recht, seit die Metro-Zeitung ihr Erscheinen eingestellt hat).

Aber schon bald stecke ich inmitten einer babylonischen Sprachverwirrung: auf Rumänisch, Polnisch Arabisch, Türkisch und anderen, mir reichlich fremden Sprachen klingt es mehr oder weniger unbekümmert um mich herum. Ich muss zuhören, mir bleibt auch gar nichts anderes übrig. Dabei verstehe ich – meistens – kein Wort. Aber es muss doch, daran lässt der oft eindringliche Tonfall keinen Zweifel, unendlich wichtig sein, was da an Neuigkeiten aus der Straßenbahn mitgeteilt werden muss. Vielleicht verstehe ich mit der Zeit mehr von den Satzbrocken, die mir bei solcherlei sprachlichem Schnellkurs um die Ohren fliegen. Abschalten ist in dieser Situation ohnehin ein Fremdwort – Passagier hört mit, ob er es will oder nicht und ob er es versteht – oder auch nicht!

Besser bin ich auch nicht unbedingt dran, wenn ich verstehe, worum es geht. So wie neulich in der Eisenbahn, als meine Italienischkenntnisse mich um die Weisheit schlauer machen, dass nicht nur der Großvater der hinter mir sitzenden Dame einst zu einem Hochschulstudium geraten habe, sondern zudem ihr Mann besser koche als sie selbst. Letzteres würde meine Frau nie über mich behaupten – zu Recht und schon gar nicht am Handy in der Bahn, habe ich mir gedacht.

Selten ist, aber es kann durchaus auch vorkommen, dass ich einem in meiner Muttersprache geführten Gespräch lausche oder – besser gesagt – lauschen muss. Viel fange ich jetzt nicht auf. Dann höre ich den schräg hinter mir sitzenden und telefonierenden Landsmann dem Handy, dem Gesprächspartner und den Mitreisenden in der Sprache Goethes anvertrauen: „Ja, die Verbindung ist ein bisschen schlecht. Dir ´nen schönen Abend noch!“ Dann kommt meine Haltestelle und ich steige aus. Ich muss mich nun bis zur nächsten Bus- oder Bahnfahrt gedulden. Doch dann werde ich wieder die letzten Neuigkeiten aus dem Munde von Mitfahrerinnen und Mitfahrern vernehmen – ganz bestimmt!

 

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