Im Frühjahr 2019 hat die Deutschsprachige Gemeinschaft Ostbelgien per Dekret einen permanenten Bürgerdialog als Element einer direkten Demokratie in Ergänzung der repräsentativen Demokratie eingeführt. Eine Besonderheit ist, dass die Mitglieder des Bürgerdialogs nicht gewählt, sondern ausgelost werden. Sechs Themen hat der Bürgerdialog mittlerweile bearbeitet. Das Modell hat international viel Aufmerksamkeit erfahren. Nach fünf Jahren Bürgerdialog liegt nun eine umfassendere Auswertung der bisherigen Erfahrungen sowie ein Überblick über mittlerweile erfolgte Verbesserungen des Ablaufs des Bürgerdialogs vor.
Von Jürgen Klute
Vor rund 10 Jahren hat der belgische Autor David Van Reybrouck sein Buch „Gegen Wahlen“ veröffentlicht. Es richtet sich ausdrücklich nicht gegen Demokratie. Vielmehr nimmt Van Reybrouck die Schwachstellen von Wahlen als Auswahlsystem für Mitglieder politischer Entscheidungsgremien im Rahmen der repräsentativen Demokratie unter die Lupe. Er kommt unter anderem zu dem Schluss, dass Wahlen nicht dazu beitrügen, dass Parlamente ein Abbild der Gesellschaft, die sie repräsentieren sollen, darstellten. Mit dieser Kritik steht Van Reybrouck keineswegs alleine. Sie spiegelt sich auch in zivilgesellschaftlichen Forderungen nach nach mehr Demokratie bzw. nach direkter Demokratie wider.
Auf EU-Ebene wurde daher bereits 2012 die Europäische Bürgerinitiative eingeführt, die es Bürgern ermöglicht, die EU-Kommission zur Ausarbeitung von Gesetzesinitiativen aufzufordern. Ebenso gibt es auf lokaler und regionaler Ebene mittlerweile eine Reihe von Versuchen mit einer stärkeren und systematischen Einbindung von Bürgerinnen und Bürgern in politische Entscheidungsfindungen in Ergänzung zu den klassischen Institutionen der repräsentativen Demokratie.
Eines der bekanntesten und auch ausgereiftesten Modelle ist der ostbelgische Bürgerdialog in der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Ostbelgien. An der Ausarbeitung dieses Modells war unter vielen anderen Fachleuten auch David Van Reybrouck beteiligt.
Mit einem Dekret des Parlaments der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens vom 25. Februar 2019 wurde der Bürgerdialog als permanente Einrichtung installiert. Nach fünf Jahren Erfahrungen liegt nun eine erste umfassende Auswertung dieses Instruments der direkten Demokratie vor. Auf dieser Grundlage fand im Frühjahr 2022 eine erste thematische Bürgerversammlung statt, der bisher vier weitere zu verschiedenen Themen folgten. Die bisherigen Themen waren „Pflege“, „inklusive Bildung“, „bezahlbares Wohnen“, „Digitalisierung“ und „Integration“. Im September 2024 startete eine sechste Bürgerversammlung zum Thema „Schülerkompetenzen“ (Details zu den einzelnen Themen finden sich hier).
Der Bürgerdialog folgt dem Konzept „learning by doing“. Dementsprechend werden kontinuierlich Verbesserungen an dem Verfahren des Bürgerdialogs vorgenommen. Anlässlich des 5. Geburtstags des Bürgerdialogs wurde jetzt ein Bericht zu den bisherigen Verbesserungen am ostbelgischen Bürgerdialog veröffentlicht. Ziel ist es, wie es dazu in einer Pressemeldung heißt, diese Änderungen in übersichtlicher Weise zu dokumentieren und für andere Projekte dieser Art zur Verfügung zu stellen.
„Da es noch kein Pendant zu uns gibt, mit dem wir uns austauschen könnten, arbeiten wir durchgehend über Learning by Doing. Dabei ist es uns besonders wichtig, uns stetig auszuwerten und zu verbessern“, erklärte die Ständige Sekretärin des Bürgerdialogs, Anna Stuers.
Um dieser Philosophie gerecht zu werden, so heißt es in der Mitteilung weiter, organisierte das Parlament der Deutschsprachigen Gemeinschaft im Juni 2022 ein Auswertungsseminar mit allen Akteuren. Auch der Bürgerrat als ständiges Gremium des Modells, das die an den Themen arbeitende Bürgerversammlung organisiert und steuert, war in die Prozessauswertung eingebunden. Der gemeinsamen Ausarbeitung konkreter Optimierungsvorschläge folgte dann die Erarbeitung von Dekretänderungen. Am 22. April 2024 – also gut fünf Jahre nach Gründung des Bürgerdialogs – verabschiedete das Parlament einstimmig das „Dekret zur Abänderung des Dekrets vom 25. Februar 2019 zur Einführung eines permanenten Bürgerdialogs in der Deutschsprachigen Gemeinschaft“.
Stuers betonte: „Das sogenannte Ostbelgien-Modell hat einen hohen Bekanntheitsgrad in der internationalen Öffentlichkeit erlangt. Deshalb sehen wir uns in der gesellschaftlichen Verantwortung, über bisher gemachte Erfahrungen transparent zu berichten.“
Der Bericht solle aber auch die interne Prozessentwicklung vorantreiben, so Stuers weiter. Der Text lege die Gründe für die gemachten Änderungen dar. So können nachfolgende Änderungsvorschläge bewusst an die bisherigen Anpassungen anknüpfen. Der Bericht dokumentiere ferner den Werdegang der Dekretänderungen und eine Auflistung von noch bestehenden Herausforderungen.
Die Änderungen beziehen sich auf verschiedene Aspekte des Bürgerdialogs. Entscheidend an dem Modell ist, dass die Teilnehmenden an dem Bürgerdialog nach einem Losverfahren ausgewählt werden. Es ist so konzipiert, dass der Bürgerdialog entsprechend Geschlecht, Alter, Ausbildung, Beruf, Zuwanderung etc. ein möglichst stimmiges Abbild der Gesellschaft wiedergibt. Das Verfahren wurde technisch weiterentwickelt, um sicherzustellen, dass die genannten Ziele erreicht werden. Zudem wurde das Verfahren und datenschutzrechtlich angepasst.
Auch im Blick auf die Auswahl der Themen wurden Verbesserungen vorgenommen, sodass Themen zukünftig präziser gefasst werden können. Außerdem wollen künftig regelmäßig auch Themen aus dem Parlament Berücksichtigung finden.
Zudem wurde das Zusammenwirken von Bürgerrat und Bürgerversammlung in einigen Punkten flexibler gestaltet. Eigentlich wird der Ablauf der Bürgerversammlung vom Bürgerrat gesteuert. Das hat sich teils als zu starr erwiesen. Zukünftig bekommt die Bürgerversammlung mehr Möglichkeiten, den Ablauf mitzugestalten.
Schließlich wurde die Öffentlichkeitsarbeit ausgeweitet, um den Bürgerdialog vor allem auch unter jüngeren Menschen bekannter zu machen.
Der vollständige elfseitige Bericht kann hier eingesehen werden.
Das Ostbelgische Modell besteht aus zwei nach dem Losverfahren zusammengesetzten Gremien: Der Bürgerrat ist zuständig für die Festlegung der Themen, und er organisiert den Arbeitsablauf der Bürgerversammlung. Dort werden die Themen inhaltlich bearbeitet. Die Mitglieder des Bürgerrats werden aus den ehemaligen Mitgliedern der Bürgerversammlung gelost, so dass sie bereits Erfahrung mit diesem politischen Instrument mitbringen.
Ein zentrales und oft strittiges Thema ist das Verhältnis eines Bürgerrates zu den durch Wahlen legitimierten Institutionen der repräsentativen Demokratie, also den Parlamenten und der Regierung. Konkret geht es um die Frage der Verbindlichkeit der von Bürgerräten ausgearbeiteten Vorschläge und den in der Verfassung festgelegten Rechten und Aufgaben von Parlamenten und Regierungen. Das ostbelgische Dekret zum Bürgerdialog regelt diese Frage eindeutig: Das Parlament ist verpflichtet, die Vorschläge der Bürgerversammlung zu beraten und Beschlüsse dazu zu fassen. Das Parlament bleibt hingegen in seiner Entscheidungsbefugnis über Gesetze autonom, denn es ist nicht verpflichtet, die Vorschläge zu übernehmen. Nach ausführlicher parlamentarischer Beratung beschließt das Parlament, ob und gegebenfalls in welchem Umfang und in welcher Form sie die Vorschläge der Bürgerversammlung annimmt. Über die Entscheidung muss das Parlament allerdings öffentlich Rechenschaft ablegen. Auf diese Weise wird einerseits die rechtliche Autonomie des Parlaments gewahrt. Andererseits wird sichergestellt, dass die Bürgerversammlung nicht für den Papierkorb arbeitet.
In diesem Punkt unterschiedet sich das ostbelgische Modell von dem Modell in Irland. Auch dort gibt es mittlerweile einen mehr oder weniger fest eingerichteten Bürgerdialog. Der wird allerdings von der Regierung initiiert und vor allem genutzt, wenn es um gesellschaftlich stark umstrittenen Gesetzesvorlagen geht. Dann wird ein Bürgerrat eingesetzt. Dessen Vorschläge bilden die Grundlage für die beabsichtigte Gesetzgebung. In der Vergangenheit hat die irische Regierung entsprechende Gesetzesvorschläge teils noch einmal durch ein Referendum abgesichert, bevor es zur Abstimmung im Parlament gab.
Beide Wege zeigen, dass Demokratien, die heute an verschiedenen Stellen unter Druck geraten sind, Spielraum für Entwicklungen bieten und dass die repräsentative Demokratie sinnvoll mit Elementen direkter Demokratie vereinbar und verknüpfbar sind.
En weiteres aktuelles Modell eines lokalen Bürgerrates läuft seit einiger zeit in der niederländischen Provinz Drenthe. Mehr dazu findet sich auf forum.eu.
Detaillierte Informationen zur Gesetzgebung, zur Struktur und Funktion und zu den Themen des ostbelgischen Bürgerdialogs finden sich auf dessen Webseite.
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