Auch an ihrem 100. Geburtstag ist Carmen Maria Fischer, die 1963 mit ihrer Familie nach Belgien kam, sich selbst treu geblieben.
Von Michael Stabenow
Es herrscht Stimmung in der „Bude“ von Carmen Maria Fischer. Natürlich, eine „Bude“ ist es genau genommen nicht, vielmehr ein gediegenes Eckzimmer im Erdgeschoss eines Altersheims im Brüsseler Stadtteil Woluwé-Saint-Pierre. Und dennoch – an den Wänden hängen zahlreiche Gemälde, Werke ihres verstorbenen, aus dem Rheinland stammenden Ehemanns Enrique. Auch auf dem Tisch geht es bunt zu. Fast wie in einer Studentenbude stapeln sich darauf Bücher, darunter „Das Gewicht der Welt“, ein fast 600 Seiten langer, spannender Roman des Schweizers Pascal Mercier.
Die Gastgeberin reicht mir jedoch ein anderes Buch und sagt eindringlich: „Das musst Du lesen!“ Das Werk stammt aus der Feder von Ute Karin Seggelke und trägt den Titel „Wir haben viel erlebt! Jahrhundertfrauen erzählen aus ihrem Leben“. Es ist ein Titel, wie er an diesem sommerlichen Nachmittag passender nicht sein könnte.
Auch Carmen Maria Fischer ist jetzt, im wahrsten Sinne des Worts, eine „Jahrhundertfrau“. Vor exakt 100 Jahren, am 14. August 1924, kam sie in Dessau zur Welt. Aufgewachsen ist sie, was ihre Diktion bis zum heutigen Tage verrät, in Berlin. 1963 sei sie mit Ehemann Enrique, „ne echte Kölsche Jung“, und der damals dreijährigen Tochter Caroline aus dem Harz nach Belgien gekommen. Bis zum heutigen Tage wohnt die Jubilarin dort.
Dass mich Carmen Maria Fischer duzt, liegt daran, dass ich damals an der Brüsseler Europaschule zu den ersten Jahrgängen gehörte, die sich mehr oder weniger freiwillig Religionsunterricht erteilen ließen. Ganze Generationen von Jungen und Mädchen, darunter die heutige EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, hat sie als Lehrerin kommen und gehen gesehen. Aber auch etliche Pfarrer der Deutschsprachigen Evangelischen Gemeinde: von Achim Quistorp in den sechziger Jahren bis zu dem im März nach Ostfriesland verabschiedeten Pfarrerehepaar Ruth und Frederik Koßmann.
Lange, mehrere Jahre als Vorsitzende, war Fischer Mitglied des Presbyteriums, des Vorstands der Kirchengemeinde. Laute Töne waren dabei nicht ihre Art. Aber klar, ohne dabei verletzend zu sein, konnte sie werden, wenn eine Predigt oder auch sonstige Entwicklungen in der Gemeinde nicht nach ihrem Geschmack waren. Heute sagt sie, keineswegs altersmild und ausgesprochen temperamentvoll, im Rückblick: „Jeder Mensch hat Stärken und Schwächen. Eine Gemeinschaft zusammenzuhalten und Tacheles zu reden – das liegt mir, und das ist meine Aufgabe gewesen.“
Carmen Maria Fischer gerät ordentlich in Fahrt, wenn sie von „damals“ erzählt. Dass sie „heute“ zu den wenigen Menschen gehöre, denen es vergönnt sei, 100 Jahre alt zu werden, erwähnt sie beinahe beiläufig. Kein Zweifel – sie freut sich über die Gratulanten, das Wiedersehen mit Weggefährtinnen und –gefährten inner- und außerhalb der Kirchengemeinde sowie natürlich auf die ebenfalls überwiegend in Belgien lebenden Familienmitglieder, die beiden Kinder, fünf Enkel und einen Urenkel. Am Donnerstag wird das Altersheim, über das sie zuletzt Zugang zu einer katholischen Gemeinde gefunden hat, eine Feier für das „Jahrhundertkind“ ausrichten. Aber ausgiebig gewürdigt zu werden, im Rampenlicht zu stehen, das scheint irgendwie Fischers bescheidenem Naturell zu widersprechen.
Lieber – und mit viel Engagement – spricht sie dieser Tage über aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen, die ihr Sorgen bereiten. Nein, sie sei damals nicht, wie viele deutsche Landsleute, wegen einer Anstellung bei den europäischen Institutionen nach Belgien gekommen. Sie und ihr Mann, ein gelernter Exportkaufmann, aber auch, wie Carmen Maria Fischer mehrfach betont, „ein Künstler“, wollten einfach in einem neuen Umfeld leben. Dass daraus Jahrzehnte geworden sind, habe man damals nicht ahnen können.
Begonnen hatte das nun seit mehr als sechs Jahrzehnten währende Belgien-Abenteuer in Meise, vor den nördlichen Toren der Hauptstadt. Später wurde das Ehepaar, inzwischen mit Tochter und Sohn, im Brüsseler Stadtteil Uccle heimisch. Sehr schnell habe sie, die gelernte Erzieherin, Anschluss an die damals in der Avenue Charbo in Schaerbeek ansässige Deutschsprachige Evangelische Gemeinde gefunden. Schon ein Jahr später habe sie als Religionslehrerin an der Europaschule begonnen.
Natürlich, fährt sie fort, sei ihr mit den Jahren auch das Thema „Europa“ ans Herz gewachsen. Doch dann wird die rüstige Dame mit dem schlohweißen Schopf grüblerisch. Sie vermisse in diesen Tagen, was den Geist der europäischen Einigung ausmache – jenes Bekenntnis zu gemeinsamen Grundwerten, wie sie es lange Jahre auch in Brüssel verspürt habe. „Europa ist für mich heute abwesend. Statt um Gemeinsinn geht es um Individualismus. Wir sind beherrscht von Egoisten“, erklärt Fischer.
Dass sich diese Einschätzung nicht allein auf Europa beziehen lasse, gibt sie unumwunden zu – was aber keine Spitze gegen das ihr ans Herz gewachsene Königreich der Flamen und Wallonen sein soll. Sie habe sich in Belgien unter Belgiern stets wohlgefühlt, fügt dann jedoch hinzu: „Ich habe mein Deutschsein nie auf der Heizung abgelegt“. Und das soll, so heimisch sich die Jubilarin Carmen Maria Fischer in Brüssel weiter fühlt, auch so bleiben.
Beiträge und Meinungen