In dem Buch „Verspielt Europa nicht“, ruft der langjährige Europapolitiker Elmar Brok (CDU) zu einer neuen Kraftanstrengung im europäischen Einigungswerk auf
Von Michael Stabenow
Er war lange in Brüssel und Straßburg bekannt wie der legendäre bunte Hund. 39 Jahre, exakt die Hälfte seines inzwischen 78 Jahre währenden Lebens, war Elmar Brok Mitglied des Europäischen Parlaments. Fast jeder Winkel der Europapolitik war ihm bekannt, und an manchen Stellschrauben hat der CDU-Mann aus Ostwestfalen eifrig mitgedreht. Seit 2019 ist Brok „Politpensionär“. Er genießt es durchaus, nicht ständig durch Europa zu tingeln und – als langjähriger Vorsitzender des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten des EU-Parlaments – kreuz und quer durch die Welt zu jetten.
Der europäische Einigungsprozess, seine Herzensangelegenheit, lässt Brok nicht los. Das zeigt sein jetzt in Zusammenarbeit mit dem Publizisten Peter Köpf unter dem Titel „Verspielt Europa nicht!“ erschienenes Buch. Dass es sich dabei nicht um klassische Memoiren eines selbstgerechten Europa-Nostalgikers handelt, macht das Buch lesenswert. Natürlich, ein wenig auf die eigene Schultern klopfen, das darf nicht fehlen – etwa wenn er die Autorenschaft für die Devise „Hast Du einen Opa, schick ihn nach Europa!“, für das Ende der Roaming-Telefongebühren, oder – in den achtziger Jahren – dafür beansprucht, „die wilden Ideen der Wirtschaftsliberalen” zu stoppen.
Viel wichtiger ist etwas anderes: Brok nimmt die aktuellen besorgniserregenden Entwicklungen unserer Zeit – den erstarkenden Rechtsradikalismus und Nationalismus, die durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine aus den Fugen geratene internationale Ordnung, Migrationsproblematik sowie die Klimakrise – zum Anlass, mehr Europa einzufordern, gestützt auf die gemeinsamen Grundwerte.
Folgt eine knallharte Abrechnung mit einem Mangel an Visionen oder nationaler Nabelschau? „Ich werde die Wahrheit über Europa berichten, gute wie noch unbefriedigende Seiten, damit Ignoranz und Lügen nicht die Oberhand gewinnen“, kündigt der CDU-Politiker an. Ganz so gnadenlos fällt, bei aller Kritik, seine Diagnose nicht aus. Brok sieht sich in der Tradition der Gründerväter der Gemeinschaft, für die Europas Einigung ein fortwährender Prozess ist. Die Gemeinschaft sei „ganz wie ein Radfahrer: vorwärtsfahren oder umfallen”. Die EU sei „noch kein Staat, arbeitet aber wie ein Bundesstaat“.
Kein Wunder, dass Brok das bei Integrationsfreunden gängige Argument anführt, wonach Europa dort am besten funktioniere, wo es nicht durch Vetos einzelner Staaten blockiert werde – wie insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik. Dass Krisen und äußere Zwänge letztlich Fortschritte in der Einigung erlauben oder gar erzwingen, schildert der CDU-Politiker eindrücklich anhand seiner Erfahrungen als EU-Parlamentsvertreter bei der Aushandlung mehrerer Vertragsreformen. Stationen waren dabei Maastricht (1991), Amsterdam (1997), Nizza (2000) sowie, nach Ablehnung des vom Europäischen Konvent ausgehandelten Verfassungsvertrags bei Referenden in Frankreich und den Niederlanden im Jahr 2005, der Lissabonner Vertrag (2007).
Für Brok war die europäische Spielwiese stets reizvoller als eine Karriere mit Ministeramt in Bonn oder Berlin. Gereizt hätte ihn der Posten eines im Bundeskanzleramt angesiedelten Europaministers mit weitreichenden Zuständigkeiten. Nach wie vor hält er ein solches Amt, wenn auch für eine andere Person, für sinnvoll. Ein großes Plus des Europapolitikers sei es, nicht in das Korsett einer mitgliedstaatlichen Regierungslogik eingezwängt zu sein. Dass er dem langjährigen Bundeskanzler Helmut Kohl und dem wie er selbst zum Arbeitnehmerflügel der Christlichen Demokraten zählenden luxemburgischen Regierungschef und späteren EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker besonders verbunden ist oder war, bringt Brok mehrfach zum Ausdruck.
Klar verwahrt er sich gegen jedwede Versuchungen seiner Partei, die Brandmauer gegenüber den „Rechtsaußen“ zerbröckeln zu lassen. Anders als zu Kohl erscheint sein Verhältnis zu CDU-Granden wie dem Ende 2023 verstorbenen früheren Finanzminister Wolfgang Schäuble als auch zur langjährigen Bundeskanzlerin Angela Merkel durchaus zwiespältig. Dass der Verfassungsvertrag 2007 in seiner Substanz gerettet worden ist, schreibt er Merkel aber durchaus zu.
Aber eine Vision für die Zukunft vermisst Brok bei Merkel – übrigens auch, zumindest nach ihrer Wahl zur Kommissionspräsidentin Mitte 2019, bei Ursula von der Leyen. „Supranationalität“ und „Gemeinschaftsmethode“ – das Zusammenwirken der EU-Institutionen Kommission, Rat (die Mitgliedstaaten) und Parlament müssen für Brok weiter die Triebfedern der Europapolitik sein. Zwischenstaatliche Zusammenarbeit und die sogenannte, von Merkel Ende 2010 in einer Rede im Europakolleg in Brügge angeregte und neben die Gemeinschaftsmethode gestellte „Unionsmethode“, seien „Wege der Vergangenheit und des Immobilismus“.
Wie gut Brok international verdrahtet war und vielleicht noch ist, zeigt ein Episode aus dem Frühjahr 2015 in Ankara. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan habe ihm beim Besuch einer Delegation gesagt: „Können wir mal allein etwas besprechen?“ Die Türkei habe drei Millionen Flüchtlinge aus Syrien im Land aufgenommen und könne dies nicht mehr alleine bewältigen. Der CDU-Politiker möge diese Botschaft Merkel übermitteln und sie um Hilfe bitten. Die Bundeskanzlerin habe jedoch gerade in der „Schlussphase der Rettung Griechenlands“ in der Eurozone gesteckt und ihm, Brok, „kurz angebunden“, gesagt: „Kannst Du damit in drei Monaten wiederkommen?“ Wenig später seien die Flüchtlinge gekommen.
Wie Brok sich die Zukunft Europas vorstellt, listet er am Ende des Buchs in zehn Punkten auf: als „fortlaufende Schöpfung“, im Kampf wider die Extremisten, mit einer funktionierende Migrations-, Umwelt-, Handels- und Sicherheitspolitik, mehr Solidarität zwischen Arm und Reich – und, generell, handlungsfähiger durch das Mehrheitsprinzip. „Wir wollen keinen europäischen Superstaat, sondern ein Europa des Dreiklangs Region – Staat – EU. Die EU ist unsere Schicksalsgemeinschaft“, erläutert Brok.
Und wie ein Orakel aus der Antike klingt es, wenn der CDU-Mann warnt, ein Europa, das nicht wieder „die Kraft zur Integration findet, wird untergehen wie die griechischen Städte des Altertums.“ Man muss nicht mit allem, was Brok schreibt, einverstanden sein. Sein Buch regt jedoch zum Nachdenken an – nicht nur, aber insbesondere über Europa.
Elmar Brok, Peter Köpf, Verspielt Europa nicht! Ohne die EU ist Deutschland ein Zwerg, Europa Verlag, München, 2024, 272 Seiten, 24 Euro (in Deutschland)
ISBN 978-3-95890-615-0
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