Von Marion Schmitz-Reiners.
26.638 Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg ruhen auf dem deutschen Soldatenfriedhof Vladslo in der belgischen Provinz Westflandern. Vom Portalgebäude aus reicht der Blick über 1300 flache, graue Grabsteine bis zur Skulpturengruppe „Trauerndes Elternpaar“ von Käthe Kollwitz. Auf jeder der Granitplatten stehen die Namen von zwanzig – meist jungen – Menschen, die im Ersten Weltkrieg fielen. Dazu gehörte Peter, der 18-jährige Sohn von Käthe Kollwitz. Am 7. Oktober wurde der Soldatenfriedhof nach umfangreicher Instandsetzung wiedereröffnet. Es war eine anrührende Feierstunde mit starkem Gegenwartsbezug.
Eine überdeckte Tribüne, ein Podium, ein Zelt für die „Fanfare St. Cecilia Vladslo“, belgische Soldaten vor einer Reihe von Kränzen – das Ambiente ist schlicht an diesem nebligen Herbstnachmittag. In der Reihe der Ehrengäste sitzen der deutsche Botschafter Rüdiger Lüdeking und die amerikanische Botschafterin Denise Campbell Bauer. Sie gehören zu den Zeugen einer Feierstunde, deren Höhepunkt Vorträge westflämischer Jugendlicher über den Krieg und dessen Auswirkungen auf das Leben junger Menschen sein werden.
Botschafter Lüdeking weist in seiner Ansprache auf den Gegenwartsbezug der Kriegsgräberstätte hin: Dieser Friedhof sei „Mahnung, vor den Opfern des Krieges unserer gemeinsamen Verpflichtung gerecht zu werden; der Verpflichtung, alles zu tun, um unsere Völker zu schützen und ihnen den Frieden zu bewahren. Diese Mahnung ist in stürmischen Zeiten aktueller denn je.“
Wolfskind und Syrienflüchtling
Daran schließt sich, inhaltlich nahtlos, der Auftritt der Autorin und Regisseurin Kathelijn Vervarcke sowie von zehn Schülern an, die in die Haut junger Kriegsopfer geschlüpft sind. Die fünf Schicksale sind nachgewiesen. Dazu gehört das von Jonas, eines „Wolfskinds“, das im Zweiten Weltkrieg während der Flucht aus dem Osten Vater und Mutter verloren hat und von einem Bauern, der ihn zunächst aufgenommen hat, wieder ausgesetzt wurde. Oder die Geschichte von Lothar, geboren 1933 in Königsberg, der Zeuge des grausamen Mordes an seiner Mutter wurde und seitdem mit schweren psychischen Problemen kämpft.
Der Gegenwartsbezug wird vollends deutlich anhand der Geschichte von Sivan, eines syrischen Jungen, der sich im letzten Augenblick weigerte, einen Selbstmordanschlag zu begehen, von seinen „Auftraggebern“ gefoltert wurde, nach Europa flüchtete und in Westflandern in immer größere Isolation geriet. Zwei Frauen nehmen sich seiner an und begleiten ihn immer wieder zur Kriegsgräberstätte. Das verstärkt in ihm das Gefühl, dass es richtig war, sich nicht in den Fanatismus hineinziehen zu lassen. Dem Publikum läuft beim Vortrag der Schüler ein Schauer über den Rücken.
Noch immer suchen Menschen nach ihren Vorfahren
Es gibt immer noch Menschen, die in Vladslo gezielt nach einer Grabstätte suchen. Dazu gehört Jean Biskup, dem wir nach der Feierstunde begegnen. Jahrelang hat er nach dem Verbleib seines Großonkels Robert Stypa aus Polen gesucht. Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, der den Friedhof verwaltet und pflegt, hat ihn auf die richtige Spur gebracht. Robert Stypa, geboren 1888, starb am 18. Oktober 1918 in einem Kriegslazarett in Gent. Die deutschen Truppen waren bereits aus dem westlichen Belgien abgezogen. „Sein Tod war völlig sinnlos.“
Nach der Kranzniederlegung spielt die Fanfare die flämische Hymne, die Europahymne und die deutsche und die belgische Nationalhymne. Zu Füßen des „Trauernden Elternpaars“ breitet sich nun ein Blumenmeer aus. Ein Hoffnungsschimmer im fallenden Abend?
Der Friedhof Vladslo ist einer von vier Kriegsgräberstätten des 1. Weltkriegs in Westflandern: Menen, Hooglede, Langemark und Vladslo. Hooglede wurde bereits 2012 restauriert, 2015 folgte Langemark. In Vladslo wurden der Eingangsbereich und die Zufahrtwege saniert. Es gibt nun Einrichtungen für die Friedenserziehung und Bereiche für Ruhe und Besinnung. Es gibt auch eine App für Friedhofbesucher mit Informationen über die Gräberstätte und den Ersten Weltkrieg in Weltflandern und allgemein.
Fotos: Maurice Bonkart
Beiträge und Meinungen