Michael Müller, Bürgermeister und Kultursenator von Berlin, bestätigte in einer Pressekonferenz Ende April, dass der nächste Intendant der Volksbühne Berlin und damit Nachfolger Frank Castorfs ab 2017 der Belgier Chris Dercon sein wird.
Ein Überblick.
Die Ernennung Dercons lässt niemanden unberührt: manche rühmen (wie Matthias Lilienthal, designierter Chef der Münchner Kammerspiele), manche rasen (wie Klaus Peymann, Intendant des Berliner Ensembles), alle reden. Chris Dercon’s Wahl zum Intendanten einer Berliner Institution gibt viel Gesprächsstoff : Erstens ist er « nicht vom Fach », zweitens ist er Ausländer.
Schafe statt Studenten
Chris Dercon wird 1958 in Lier in der Provinz Antwerpen geboren. Dieses Städtchen verdankte seinen jahrhundertelangen Wohlstand einer Entscheidung im 15. Jahrhundert. Um sich für die Treue der Bewohner im Kampf gegen das benachbarte Mechelen zu bedanken, stellte Herzog Jan IV. Liers Bürger vor die Wahl : das Recht, einen Viehmarkt abzuhalten oder – eine Universität zu errichten. Die Entscheidung fiel für die Schafe aus, eine Entscheidung, die dem Querdenker Dercon sicher gefallen hätte.
Nach Studien der Kunstgeschichte, Theaterwissenschaften und Filmtheorie in Amsterdam und Leiden, erwirbt Dercon erste praktische Erfahrung beim belgischen Rundfunk. Dann führen seine Wege über Rotterdam, New York nach Paris, wo er eine bahnbrechende Austellung « Face a l’histoire » realisiert.
Von 2003 bis 2011 war er bereits in Deutschland, als Direktor des Hauses der Kunst in München. Seit April 2011 leitet er die Tate Gallery Modern Art in London. Bei seinem Antritt sprach er von der « Dichte des Sehens ». Will er sie jetzt ans Theater bringen ?
Die Neugier auf Unberechenbares
« Wir brauchen keine Kuratoren oder Projektentwickler », sagt Peymann, das ist aber genau, was Dercon nicht vorhat. Er will 365 spielbare Tage, auch Repertoire-Theater, ein Kollektiv-Theater, wo mit Schauspielern der Spielplan, die Spielorte diskutiert und erarbeitet werden, so auch z.B. in einem Hangar des (mittlerweile stillgelegten) Flughafens Tempelhof. Lilienthal, andererseits, wünscht Berlin “diese Durchmischung von Bildender Kunstwelt und Theaterwelt, die Neugier auf Unberechenbares”, das der Stadt Berlin nur gut tun könnte.
“Etwas kann nur kommen, wenn etwas geht. […] Irgendwo muss man einen Punkt setzen,” sagt Dercon. Und er hat schon viele Punkte gesetzt: Connaisseur zeitgenössischer Kunst, bejubelt als einer der besten Ausstellungskuratoren weltweit, scheut er nicht vor Konfrontationen zurück, ohne aber aggressiv provokant zu sein. Seine Waffen sind Wissen und Können gepaart mit Mut zur Verrücktheit und eine gehörige Portion Charme. Das zeigte er in den 7 Jahren, in denen er das Haus der Kunst leitete und “die Welt nach München” brachte. Und bei seinem Abschied, auf dem Weg zur Tate, meinte er: “Ich bevorzuge es eigentlich eher, eine Volksbühne zu sein als ein Mausoleum”. Mit prophetischer Genauigkeit wünschte er sich, was er nun bekam.
Margaretha Mazura
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