„Steht die Existenz des belgischen Bundesstaates auf dem Spiel?“ Mit dieser rhetorischen Frage eröffnete Ministerpräsident Karl-Heinz Lambertz den überwältigend gut besuchten Diskussionsabend am 30. Oktober 2007 in der Vertretung der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Brüssel. Die Antwort darauf sei nein, fuhr er fort: „Aber wir brauchen mindestens zwei Stunden, um das zu diskutieren.“
Als Gastgeber begann er mit der Feststellung, die bisherigen Bemühungen um eine Regierungsbildung hätten nur eine Illusion von Bewegung erzeugt – bei ständiger Rückkehr zur Ausgangsposition. Wird der Wahlbezirk Brüssel-Halle-Vilvoorde gespalten oder nicht? Dazu gibt es noch keine Entscheidung, es bestehe also die Gefahr einer Staatskrise: „Jeder Staat braucht eine Regierung, auch wenn es nur eine Bundesregierung ist.“ Für die vielen Nichtbelgier im Auditorium zählte er auf, was die Situation brisant macht: Das geänderte Kräfteverhältnis zwischen Flamen und Wallonen, die Unterschiede in der Mentalität, das Fehlen von Bundesparteien, nach Sprachen getrennte Medien und damit das Fehlen einer „belgischen“ öffentlichen Meinung.
Alles nur Theaterdonner?
Obwohl Lambertz starke Worte gebrauchte (die Sprachengrenze als „institutionelle Bombe“ zum Beispiel), wirkte er nicht wirklich alarmiert. Er verglich Belgien mit Jerusalem und mit Zypern; Krisen- und Nachtsitzungen seien nur Mittel der „liturgischen Dramatisierung“, die Gesichtsverluste vermeiden helfe und einen weiteren aus der Serie komplizierter belgischer Kompromisse ermögliche. Seine Prognose: Ein Zerfallen des Föderalstaates sei wenig wahrscheinlich, jedoch dürften Regionen und Gemeinschaften weiter gestärkt werden. Irgendwann, so seine kühne Vision, werde es in Belgien nur noch vier Regionen geben: Flandern, die Wallonie, Brüssel und die DG.
Dann sprach Senator Berni Collas von der Partei für Freiheit und Fortschritt PFF, das einzige deutschsprachige Mitglied des belgischen Senats. Er schilderte die Lage eindringlich aus Brüsseler Sicht. Von ostbelgischer Gelassenheit war er, wie auch viele im Publikum, weit entfernt. Seine Sorge: „Belgien wächst auseinander, nicht zusammen.“ Der Föderalstaat werde weiter ausgehöhlt werden, noch mehr Kompetenzen würden den Regionen übertragen. Und er fügte hinzu: „Es gibt keine staatstragenden Parteien mehr.“
Früher habe es noch Politiker gegeben, die national dachten, so ein tief beunruhigter Collas. Die heutige wirtschaftliche und politische Elite hingegen denke nicht mehr belgisch. Es sei bedauernswert, wie wenige Parlamentarier noch die Sprache der anderen verstünden oder gar sprächen. Die Deutschsprachigen noch am ehesten, fügte Collas hinzu, der seinen Amtseid in allen drei Landessprachen abgelegt hat.
Die blaue Orange will nicht reifen
Den Topos vom deutschsprachigen Belgier als dem besten Belgier griff Minister Oliver Paasch von der Partei der deutschsprachigen Belgier (PJU-PDB) gerne auf, um dann die Meilensteine der fortschreitenden Regionalisierung aufzuzählen. Es konnte der Eindruck entstehen, es ginge den Deutschsprachigen darum, im Windschatten der Flamen ebenfalls aus der Regionalisierung möglichst viel Profit zu machen. Paasch bekräftigte, dass die DG die „Gemeinschaftsregion“ anstrebe und von den Wallonen regionale Kompetenzen übertragen bekommen wolle. Mit dem Thema des Abends „Steht der belgische Föderalstaat auf dem Spiel?“ hatte dies allerdings nicht viel zu tun.
Dann kamen die Journalisten zu Wort, zunächst Gerd Zeimers, Korrepondent des Eupener „Grenz-Echo“ in Brüssel. Anders als seine aus Eupen angereisten Landsleute wirkte er tief besorgt. 142 Tage ohne Regierung, rechnete er aus. „Die blaue Orange will nicht reifen.“ Leterme habe nicht das Profil eines föderalen Ministerpräsidenten. Zwei große Probleme gebe es: Die Angst der Wallonen vor den Flamen und das Auseinanderleben der Gliedstaaten. „Man geht kaum über die Sprachgrenze“, stellte Zeimers fest und lobte die gemeinsame Initiative von „De Standaard“ und „Le Soir“, die vor den Wahlen vom 10. Juni 2007 Redakteure zur Berichterstattung in den jeweils anderen Landesteil geschickt hatten.
Föderalismusreform erst nach 2009?
„Die Ostbelgier sehen die Situation wohl etwas gelassener“, meinte Alexander Hohmann vom Belgischen Rundfunk, dem öffentlich-rechtlichen Sender der DG in Eupen. Zwar würden ausländische Medien ein Auseinanderbrechen Belgiens voraussehen. Er jedoch sei überzeugt, die Regierungsbildung werde gelingen. Nun hielt es Marion Schmitz-Reiners nicht mehr auf ihrem Stuhl. Die Ostbelgier seien offenbar optimistischer als die „Brüsseler“, stellte die Publizistin fest, die seit 1983 in Antwerpen lebt. „Die Situation ist dramatischer, als man sich das in Eupen und in Sankt Vith vorstellt. In Flandern rechnet man mit dem Auseinanderbrechen des belgischen Staates, sogar wenn man dieses Ziel nicht befürwortet.“
Für Collas blieb am Ende die entscheidende Frage: „Wollen die Flamen Belgien noch?“ Und Lambertz wagte noch die Prognose: „Wir haben bis Weihnachten eine neue Regierung. Die Föderalismusreform kommt dann nach 2009.“
Auf dem Heimweg machten sich die Gäste dann wieder ans beliebte Flaggenzählen. Vom Haus der Deutschsprachigen Gemeinschaft abgesehen, hing in der dunklen Rue Jordaensstraat aber nur eine einzige.
Autor: Renate Kohl-Wachter
Fotos: Johannes Wachter
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