Wer hat die Verwandlung vorhandener Werte in wertlose Papiere – bei hohem Profit für die Beteiligten – noch nicht verstanden? Beim Auftritt des “Ersten Deutschen Zwangsensembles” am 25. Juni 2012 in Brüssel konnte man es lernen. “Brüssel – ein Lebenstraum geht in Erfüllung” hieß es von der Bühne herab. Claus von Wagner, Philipp Weber und Mathias Tretter rissen ein begeisterungsfähiges Publikum im Kulturzentrum in Woluwe-St-Pierre/St-Pieters-Woluwe hin zu rauschenden Applaus.
Mit fast 600 Besuchern ausverkauft war der traditionelle Kabarettabend im Sommer, zu dem der Brüsseler Ortsverein der SPD das deutschsprachige und deutschkundige Publikum einlädt. Dass es sich keineswegs um eine Parteiveranstaltung handelte, bewies schon die Anwesenheit des Kommissars Günther Oettinger, von Botschaftern, Landesvertretern und deutschsprachigen Seelsorgern.
Moderner Kapitalismus für Anfänger
In gestreifter Gefängniskluft führen die inhaftierten Übeltäter ihrer Therapeutin mit dem schönen Namen Angela vor, wie man “Finanzblasen” auf anderer Leute Kosten schafft und dabei klotzig verdient. Schuldbewusstsein hat keiner. Dabei bleibt es trotz Angelas Therapieversuchen.
Ein einprägsames Bild: Der eine Täter frisst dem anderen seinen Schokoladenriegel weg und investiert damit (für sich) “gewinnbringend in die Zukunft”. Das Schokoladenpapier packt er mit anderen Papieren zusammen und verkauft es. Den Gewinn behält er, dazu erklärt er dem Opfer, er erhöhe damit seine zukünftigen Gewinnchancen. Das freut diesen natürlich sehr. Das Ende vom Lied: Die Bösen verdienen auch aus dem Gefängnis weiter, und schließlich wird das Gefängnis verkauft und privatisiert. Die beiden Finanzkriminellen werden Geschäftsführer der Anstalt und schmeißen die Therapeutin raus. Da sieht nun wirklich jeder, dass es sich um reines Kabarett handelt.
15 Jahre Tradition – Deutschsprachiges Kabarett in Brüssel
Den Bogen von den Künstlern zum Veranstalter schlug Özgür Öner, der Ortsvereinsvorsitzende der Brüsseler Sozialdemokraten, indem er die drei Kabarettisten mit der SPD-Troika an der Parteispitze verglich. Doch anders als Steinmeier, Steinbrück und Gabriel haben die Mitglieder des Zwangsensemble bis jetzt 37 Kabarett- und Kleinkunstpreise eingeheimst.
Ein ehrenamtliches Team unter der Leitung von Frank Siebern-Thomas bereitete den Abend vor und kümmerte sich darum, dass alles rund lief. Dank der Kontakte von Siebern-Thomas, eines großen Kenners und sorgfältigen Beobachters des politischen Kabaretts, kommen immer wieder Spitzenleute nach Brüssel.
Die letzte Tour nach Brüssel und anderswohin
Ist es nicht so, dass Leute nach Brüssel geschickt werden, die nichts mehr zu sagen haben, meinen die Künstler. Und wurde nicht schon vieles verabschiedet? Die sichere Rente – die Volksparteien – der Nationalstaat. Aber kommen nicht auch “Verabschiedete” wieder, politische “Untote” wie Rainer Brüderle? In der europäischen Politik verabschieden sich ganze Länder und flüchten dann unter einen “Rettungsschirm”. Araber verhelfen Diktatoren zum kollektiven Abschied. Abschied überall.
Nur in Deutschland bleibt es ruhig, von Protesten wie in Stuttgart abgesehen. Das hätte man leicht beenden können, wenn man Lenin gefolgt wäre und die Teilnehmer eine teure Bahnsteigkarte hätten lösen müssen. Chance Verpasst.
Für das Kabarett kündet sich ein Abschied an – bezogen auf das Durchschnittsalter des Publikums. Das Kabarett ist es nicht, was sich verabschiedet. Allein dass die FDP es wieder in die Landtage geschafft hat, freut die Kabarettisten und sichert ihre Zukunft. Sie stünden der FDP schon als “unterbezahlte Selbständige” nahe, die oft “in Hotels wohnten”.
Eine “Sitzung” mit Streit
Ein Kabarettist tritt als “aktiver Nichtwähler” auf, der die “Bibeltreuen Christen” oder andere Splitterparteien an der Macht sehen will. Ein Beitrag zur Frauenquote gerät auf Abwege, die Kabarettisten fragen sich, ob eine Affäre Angela Merkels mit einem 17 jährigen Marokkaner – ein spiegelbildlicher Vergleich mit Silvio Berlusconi – in Deutschland denkbar wäre. Eher nicht.
Streit um fehlendes Toilettenpapier auf der Bundestagstoilette im Reichstag führt zu politischen Auseinandersetzungen. Die bundesdeutsche Geschichte reduziert sich auf den Weg vom rauen Papier aus einer Lage bis zur vierlagigen Luxusrolle. Doch – zu verteilen gibt es nichts mehr, auch das Versprechen, die Stimme der Partei des Papierinhabers zu geben, verfängt nicht. Kein Papier.
Die Satire auf die Spitze getrieben wird in einer Szene über die Anwerbung von Arbeitslosen für einen Privaten Sicherheitsdienst, sprich Militäreinsatz von Privatfirmen. In kalten Beschäftigungs-Jargon wird das Undenkbare zur ökonomisch-finanziellen Routine. Verlust der Ethik wird zum normalen Wirtschaftsjargon. Kabarett schlägt durch bis zum kalten Schauer.
Jesus’ Buchprojekt und fränkischer Buddhismus
Köstlich das Gespräch eines Verlegers mit einem “palästinensischen Buchautor” namens Jesus, bei dem es um ein Buchprojekt geht – mit köstlichen Einsatz biblischer Zitate zur Erörterung der Absatzchancen. Das Gespräch kommt ab vom Buchprojekt und läuft in Richtung “Open Air – Zaubershow” oder TV-Kochsendung mit Publikationsverwertung.
Im Buddhistischen Meditationszentrum Obereichelbach werden Zukunftsstrategien für die Finanzierung geschmiedet. Vegetarismus und Glaubensregeln stehen ortsüblichen Sponsoring und Reklameaktionen im Wege. Die selbst gestrickte Religion passt einfach nicht.
“Uffschnitt statt Carpaccio”
Fränkisch gefärbt ist auch der Rundumschlag gegen die wechselnden Modetrends gesunden Essens. Statt “Carpaccio” soll es einfach “Uffschnitt” heißen, egal, was da geschnitten wird.
Die “Rentner Armee-Fraktion” will mit einer Bombe im Altersheim protestieren. Gegen Bettruhe um 16 Uhr, gegen das schlechte Essen, gegen Fernsehsendungen mit Hansi Hinterseer. Altersgemäße Logistik-Mängel führen dazu, das hier die “letzte Tour” mit einer Bombe zu Ende geht.
Die Zugabe thematisiert den Erfolg eins “Integrationskurses”, auch in Franken. Zwei peruanische Flötenspieler machen ihren integrationsunwilligen dritten Bruder zur Sau. Am Schluss ziehen sie zusammen von der Bühne ab, unter den Klängen des Deutschlandliedes, gespielt auf der Flöte der Anden.
2013 gleich zwei Mal Kabarett
Beeindruckt war das Ensemble, das in dieser Zusammensetzung noch nie in Brüssel aufgetreten war, von den großartigen Sperrungen der Straßentunnel in Brüssel. Der Hinweis, dies diene der Förderung des öffentlichen Nahverkehrs, der Radfahrer und Fußgänger, war ihnen zu kabarettistisch. In die europäische Hauptstadt wollen sie gerne wiederkommen, vorausgesetzt, sie werden eingeladen.
Juni 2012 ist ein bisher unerreichter Höhepunkt für das deutschsprachige Kabarett in Brüssel. Der SPD-Ortsverein wird im Jahre 2013 sogar zweimal Kabarett anbieten, einmal im Januar und noch einmal im Juni.
Fotos: Johannes Wachter
Autor: Jan Kurlemann
Beiträge und Meinungen