Von Heide Newson.
So was hatte der Belgische Senat in seiner altehrwürdigen Geschichte noch nicht erlebt. Anlässlich des 100. Geburtstags Ostbelgiens, der am 9. Januar im Senat mit mehr als 250 Gästen mit Theater, Tanz und Musik gefeiert wurde, klatschten und rockten zuletzt alle Anwesenden.
Von DG-Ministerpräsident Oliver Paasch, Parlamentspräsident Karl-Heinz Lambertz, Premierministerin Sophie Wilmès, NRW-Ministerpräsident Armin Laschet, einem Vertreter des Königs und Senatspräsidentin Sabine Laruelle bis hin zu den Gästen auf der Galerie ließen sich alle von den schmissigen Songs der “Wirtschaftswonder”-Band, die Nenas “99 Luftballons”, “Strangers in the Night” und sogar die “Tatort”-Titelmelodie intonierte, mitreißen.
Anlass zur Freude und Grund zum Feiern gab es viel. Nach einer wechselvollen Geschichte, die für Ostbelgien mit Krieg, Gewalt, Vertreibung und mit einem Staatenwechsel verbunden war, fühlen sich mittlerweile 97% der Deutschsprachigen Belgier eng mit ihrem Königreich verbunden. Das war nicht immer so.
Am 10. Januar 1920 trat der Versailler Vertrag in Kraft und machte Belgien um 1.050 Quadratkilometer größer. Der Friedensvertrag von Versailles verpflichtete Deutschland, nach dem Ende des Ersten Weltkriegs einige bisher deutsche Gebiete an den Nachbarn abzutreten. Dazu gehörten die Ostkantone, genauer die Region um Eupen, Malmedy und St. Vith, die Belgien als Kompensation zugesprochen bekam. Im Rahmen eines Festaktes zum 100. Jubiläum dieses Ereignisses blickten belgische Politikerinnen und Politiker sowie NRW-Ministerpräsident Armin Laschet auf die leid-und wechselvolle Geschichte Ostbelgiens zurück.
Während Senatspräsidentin Sabine Laruelle die gelungene Integration ins belgische Staatsgefüge würdigte, gab Armin Laschet auch Privates preis, das ihn mit Ostbelgien verbindet. Seine Vorfahren stammten aus dem Kreis Eupen und aus Erzählungen seines Großvaters habe er erfahren, wie Väter, Brüder, Söhne der Familie in der wechselvollen Geschichte der Region gegeneinander hatten kämpfen müssen. Deshalb sei es wichtig, hier im Brüsseler Senat an die damaligen Ereignisse zu erinnern, und über die jetzige Erfolgsgeschichte Ostbelgiens zu sprechen. Dass es innerhalb von wenigen Generationen möglich geworden sei, so ganz anders miteinander umzugehen und zu leben, sei nachahmenswert. Ostbelgien sei ein Vorbild für viele Länder.
DG-Parlamentspräsident Karl-Heinz-Lambertz betonte, dass die Ostbelgier dem Vaterland dankbar seien für die umfangreiche Autonomie, die die föderale Ebene den Regionen ermögliche. Dies auch in der Hauptstadt zu feiern, sei wichtig und richtig. Die positive Entwicklung Ostbelgiens sei keineswegs selbstverständlich. Doch mittlerweile verstehe sich Belgien auch als ein deutschsprachiger Staat. Unter jeder der Staatsreformen habe man die Interessen und Belange der Deutschsprachigen Gemeinschaft berücksichtigt.
„Ich wünsche Ostbelgien alles Gute zum Geburtstag, heute ist ganz Belgien stolz darauf, diesen Geburtstag zu feiern,“ sagte Belgiens Premierministerin Sophie Wilmès. Kriege hätten Ostbelgien gezeichnet. „Heute würdigen wir Frauen, Männer und Kinder, und all das, was sie dort während dieser Zeit ertragen mussten.“ Aus all dem sei eine Erfolgsgeschichte geworden. Wilmès erwähnte die schnelle Regierungsbildung nach den Wahlen in Ostbelgien, das hervorragende Bildungssystem, die niedrige Arbeitslosenrate, auf die man fast neidisch sein könne. Weiter lobte sie die Mehrsprachigkeit der ostbelgischen Bevölkerung, ihren offenen Geist und die guten Beziehungen zu den Nachbarländern. „Ich wünsche den Ostbelgiern weiter eine florierende Zeit in einem florienden Belgien.“
Kulturelle Darbietungen, Theater, Tanz, und Musik nach jeder Rede bereicherten die Feier mit interessanten Darstellungen der ostbelgische Geschichte.
Oliver Paasch, der junge und dynamische Ministerpräsident Ostbelgiens, verantwortet nun die Geschicke des Landesteils. Er ging in seiner mit Spannung erwarteten Rede vor allem darauf ein, wie Gewalt und Vertreibung den heutigen Osten Belgiens über lange Zeit geprägt hatten. Ein Zustand, so Paasch, den “die Bevölkerung weder herbeigeführt noch gewollt hatte.“ „Meine Heimatstadt St. Vith wurde beispielsweise während der Ardennenoffensive komplett dem Erdboden gleichgemacht. An den bitterkalten Weihnachtstagen vor 75 Jahren starben in St. Vith fast 1000 Menschen im Bombenhagel. Von über 600 Häusern blieben nur 6 stehen.”
Dann sprach er über die ersten Jahrzehnte in Belgien, die für die kleine deutschsprachige Minderheit alles andere als einfach gewesen seien. Damals sei die deutsche Sprache verpönt gewesen und zurückgedrängt worden. Hinzu sei die Säuberungswelle nach dem 2. Weltkrieg gekommen. Doch durch die offizielle Anerkennung der deutschen Sprache in den 1960er Jahren und den Ausbau der Autonomie ab den 1970 Jahren habe sich alles geändert.
“Heute,” sagte Paasch, “haben wir einen Status erreicht, um den uns viele Regionen in Europa beneiden.” Unglaublich gewachsen sei die Deutschsprachige Gemeinschaft in den letzten Jahrzehnten. Damit meinte er nicht wirklich die Bevölkerungszahl, die mit 77.527 Einwohnerinnen und Einwohnern eher überschaubar ist. Man sei eine kleine Gemeinschaft, aber die Befugnisse seien gewachsen: „Unser Land hat unsere kleine Gemeinschaft zu einem gleichberechtigten Gliedstaat – zu einem Bundesland gemacht, während unsere Vorfahren die Willkür ständig wechselnder Herrscher ertragen mussten. Mit unserer Autonomie haben wir viele Gestaltungsmöglichkeiten erhalten, die es uns erlauben, demokratisch und eigenverantwortlich über unsere Zukunft zu entscheiden.“ Belgien und Europa haben den Ostbelgiern ein friedliches und sicheres Zuhause gegeben, ein vielfältiges Zuhause mit unterschiedlichen Kulturen und Sprachen, ein Zuhause, in dem man sich wohlfühlen könne. Dennoch stünden auch in Ostbelgien mitunter schwierige Entscheidungen an. „Aber im Unterschied zu allen unseren Vorgängergenerationen können wir diese selbst treffen. Und das ist gut so.“
Wie gut, das demonstrierten sie dann auch gleich beim anschließenden Empfang, der die ganz besondere Signatur der Ostbelgier trug. „Die wissen wirklich zu feiern”, freute sich ein französischsprachiger belgischer Journalist, der zur Feier des Tages am liebsten noch das Tanzbein geschwungen hätte. „Welch ein Glück für Belgien, dass sie zu uns gehören.“
Fotos: Heide Newson, Sandra Parthie
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