Gesellschaft, Lifestyle, Ratgeber

Zwei Lesetipps zur Kunst des Tröstens und des kreativen Nichtstuns

 

Von Hajo Friedrich

Warum wir Trost brauchen“ und „Wie können wir unser kontemplatives Vermögen wiederbeleben?“Auf diese zwei viel zu selten gestellte Fragen geben zwei deutschsprachige Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt radikale, kluge und erfrischende Antworten. Meine Lektüreempfehlungen für den Sommer und darüber hinaus lauten deshalb in der Kategorie Sachbuch:

Jean-Pierre Wils, „Warum wir Trost brauchen“ und

Byung-Chul Han: „Vita Contemplativa oder von der Untätigkeit“

Eines vorneweg: diese beiden gut, aber aufmerksam zu lesenden Bücher sind keine Ratgeber, wie sie uns zu Dutzenden und mit den wildesten Versprechungen im Internet und manchen Buchhandlungen anspringen. Der in Deutschland lebende und in den Niederlanden lehrende Belgier Jean-Pierre Wils und der koreanisch-deutsche Philosoph Byung-Chul Han zeichnen sich gleichermaßen dadurch aus, dass sie grundlegende Themen der Zeit ausleuchten und gegen den Strich bürsten. Das geschieht zwar zugespitzt, dennoch in klug wägender Sprache und angereichert mit philosophischen Ausflügen sowie literarischen Fundstücken, die den Leseappetit noch mehr anregen. 

Mit ihren jüngsten Publikationen gebührt beiden Autoren das Verdienst, das Ansehen von zwei Begriffen – „Trost“ und „Untätigkeit“ – wiederherzustellen. Denn diese hätten vollkommen zu Unrecht einen schlechten Ruf. Im Zeitalter selbstbewusster und aktivistischer Selbst- und Weltumgestaltung hafte „Trost“ etwas Altmodisches an, so der Theologe und Ethiker Wils.

Handeln und helfen statt trösten“, laute meist die Devise. Und „therapieren statt resignieren“ ihre Variante, sobald Menschen nicht mehr vorankommen. Kulturwissenschaftler Han ruft mit seinem Plädoyer für kreatives Nichtstun indirekt zum Widerstand gegen permanentes Handeln, grenzenlosen Konsum und Wachstum auf.

Sehnsucht nach Quellen des Trostes

Nicht nur bei konkreten Trauerfällen wie dem Verlust vertrauter, liebgewonnener Menschen oder Tiere, sondern auch angesichts globaler welt- und klimapolitischer Verwerfungen sehnten Menschen sich nach Trost, schreibt der aus Geel in der Provinz Antwerpen stammende Wils. Als Trostquellen stünden oftmals die Natur, Musik oder andere Künste, aber auch Dinge sowie natürlich zuvorderst Kontakt und Gespräche mit Menschen bereit. Trost sei auch ein Gegenmittel zu dem zunehmenden, nicht selten in Verzweiflung endenden Gefühl „existenzieller Obdachlosigkeit“, so Wils, der Philosophische Ethik und Kulturphilosophie an der Radboud-Universität im niederländischen Nimwegen lehrt.

Byung-Chul Han hat seine Professorenlaufbahn schon hinter sich und kann sich ganz auf das Schreiben seiner Essays konzentrieren, die inzwischen schon in mehr als 20 Sprachen übersetzt wurden. Bekannt geworden ist er einer wachsenden Leserschaft mit Essays zur „Müdigkeitsgesellschaft“ und „Transparenzgesellschaft“. Schon vor Jahren hat er eindrücklich vor der „Infokratie“, dem „digitalen Schwarm“, dem „Verschwinden der Rituale“, aber auch der „Agonie des Eros“ gewarnt.

Untätigkeit als Intensität wahrnehmen

Die Fähigkeit zur Untätigkeit komme uns gänzlich abhanden, so lautet die These im jüngsten Werk von Byung-Chul Han. Dabei sei Untätigkeit keine Verweigerung, keine bloße Abwesenheit von Tätigkeit, sondern ein eigenständiges Vermögen. Eine „Intensität“, die in der gegenwärtigen Aktiv- und Leistungsgesellschaft nicht mehr anerkannt werde. „Wo allein das Schema von Reiz und Reaktion, Bedürfnis und Befriedigung, Problem und Lösung, Ziel und Handlung herrscht, verkümmert das Leben zum Überleben“, so Han. Das wahre Leben beginne in dem Moment, in dem die Sorge um das Überleben, die Not des schieren Lebens aufhöre.

Plädoyer für kreatives Nichtstun

Die gegenwärtige Krise unserer Gesellschaft rufe nach einer auf der „Vita Contemplativa“ beruhenden Lebensform. Das Zeremoniell der Untätigkeit umfasse vieles – flanieren, schlafen, träumen denken, uns langweilen, mal auf nichts warten oder einfach nur schweigen. Han zitiert auch hier gerne Walter Benjamin, den Entdecker des Flaneur-Typus: „Die Langeweile ist die Schwelle zu großen Taten“.

Nur so können wir der Zerstörung der Natur entgegenwirken“, schreibt Han. Untätigkeit sei weder Schwäche noch Mangel, sondern eine Intensität, die aber in unserer „Aktiv- und Leistungsgesellschaft“ weder wahrgenommen noch anerkannt werde. Die ‚schöpferisch Tätigen‘ unterscheiden sich von den ‚nützlich Tätigen‘ dadurch, dass sie tun, aber „zu nichts“. Gerade dies ermögliche manches Mal, dass etwas ganz Anderes, etwa nie Dagewesenes entstehen könne, meint Kulturwissenschaftler Han. 

Wir, die Tätigen, lesen kaum noch Gedichte. Nach Einschätzung von Han wirke sich der Verlust unseres kontemplativen Vermögens auch auf unser Verhältnis zur Sprache aus: „Der Kommunikationslärm zerstört die Stille, beraubt die Sprache ihres kontemplativen Vermögens.“ 

Mehr kontemplatives Handeln bedeute, Handeln um die Besinnung zu erweitern und jene Zwänge zu beseitigen, die den „Menschen zu einem Nutz- und Arbeitsvieh“ abrichteten, so Han.   

Die Intensität in der Untätigkeit wieder entdecken

Kenner dürften bereits am Titel seines Essays bemerkt haben: Han will einen Gegenentwurf liefern, die blinden Flecken ausleuchten von Hannah Arendts 1960 auf Deutsch erschienen Bestseller „“Vita Aktiva oder Vom tätigen Leben“. „Der Messianismus der Freiheit und Handlung“ beseele Arendts Denken.

KI – unfähig zum Leiden

Vita activa entartet zur Hyperaktivität und endet im Burnout, nicht nur der Psyche, sondern des ganzen Planeten, wenn sie nicht die Vita contemplativa in sich aufnimmt“, stellt Han fest.

Weil Künstliche Intelligenz (KI) gerade boomt: Maschinen, wie auch KI, seien kontemplative Untätigkeit fremd. Sie können schon deshalb nicht denken, weil unfähig zum Pathos, so Han. „Leiden und Erleiden sind Zustände, die durch keine Maschine erreicht werden können“.   

Um den Schmerz herum Geschichten weben

Maschinen bieten keinen Trost, auch kein Pflegeroboter – so könnte der belgische Philosoph Wils jetzt den Ball seines Kollegen im Geiste aufnehmen. Menschen verlangten nach Trost, weil in ihrer persönlichen Lebenssituation das Helfen nicht mehr helfe, sagt Wils. „Der Trost bleibt ein leichtsinniges Unterfangen oder gar billiges Versprechen, solange der Ort seiner tiefsten Not nicht gefunden worden ist.“ 

Kein Trost, ohne zuvor den Schmerz zu verstehen, der durch im Körper und Geist hervorgerufene Verstörungen hervorgerufen wurde. Die Möglichkeiten der Schmerztherapie seien heute zwar besser als je zuvor, so Wils. Doch das betreffe nicht alle Arten von Schmerz – etwa chronische Schmerzen oder seelische Wunden, weil Heilung nicht in Aussicht stehe. „Das Leiden spitzt sich nicht selten zu, in Verzweiflung am Leben“. 

Trostquelle Religion

Doch was kann trösten, was nur vertrösten oder falschen Trost bieten? Traditionelle Quellen – wie die Religion – seien weitgehend versiegt. Doch damit hätten wir „den Ast abgesägt, auf dem wir saßen“, zitiert Wils den kanadischen Philosophen Charles Taylor.

Mit einem empathielosen Schulterklopfer versehene Sprüche wie „Das wird schon wieder“ oder „Da müssen wir eben alle durch“ seien bloße Argumente, aber kein Trost. „Wer trösten will, sollte in der Lage sein, das Leiden eines Menschen wahrzunehmen“, schreibt der Direktor des Kasseler Museums für Sepulkralkultur, Dirk Pörschmann, in dem Nachwort zu dem Buch von Wils. 

Für Han lässt sich die heutige Krise der Religion nicht einfach darauf zurückführen, dass wir jeden Glauben an Gott verloren haben oder misstrauisch gegenüber Glaubenssätzen geworden sind. Auf der tieferen Ebene verweise die Krise darauf, dass wir zunehmend das kontemplative Vermögen verlieren. Und die Selbstlosigkeit. Denn im Zeitalter permanenter narzisstischer Selbstproduktion und Selbst-Inszenierung verliere die Religion ihr Fundament, so Han.

Lebensziel ‚Vita composita‘

Nach aufmerksamer Lektüre dürften nicht wenige Leser schwer ins Nachdenken über eingeschliffene Handlungen und Redensarten kommen. Aber auch dankbar sein für manche Neugewichtung von richtig und falsch sowie wichtig und unwichtig. Denn der Mensch sei nicht mehr als ein „Mitbürger“ in einer „Republik der Lebendigen“, zu der auch Pflanzen, Tiere, Stein, Wolken und Sterne“ gehören, schreibt Han am Schluss seines Werks.   

Trost braucht eigenes Medium

Um den Schmerz herum müssten wir Geschichten weben, rät Wils. Die Stunde des Erzählens habe geschlagen. Argumente trösteten genauso wenig wie besseres Wissen. Der Trost benötige ein eigenes Medium. Die Welt der Fiktionen, nicht zuletzt die Kunst leiste auch da wertvolle Dienste. Was bleibt, sei die Suche nach einer Sprache, die den Schmerz angemessen zum Ausdruck bringe. 

Trost kann aus vielen Quellen sprudeln, sie müssten jedoch zuerst erschlossen und interpretiert werden, sagt Wils. Wenn wir uns nicht zu einem radikalen Schonverhalten entschieden, drohe etwa die Natur als Trostquelle immer mehr zu versiegen. Auch das Verhältnis des Menschen zu seiner tierischen Umgebung sei von Gewalt und Verwertung geprägt. Nach Einschätzung von Wils könnten auch manche Dinge mit besonderem Erinnerungswert trösten.

Und natürlich die Musik. Nach jüngsten Forschungen löse bereits die ihr Kind tröstende Mutter die „Tiefenresonanz der Musik“ aus, schreibt Wils. Lediglich zwischen Menschen könne von einem Akt der Tröstung im strikten Sinne die Rede sein.

Von guten Mächten umgeben

Abschließend kommt Wils doch wieder auf die Rolle der Religion als „mächtigem Trostgenerator“ zu sprechen. Und er zitiert Dietrich Bonhoeffer: „Von guten Mächten treu und still umgeben, behütet und getröstet wunderbar“, befand der Theologe und Widerstandskämpfer am Vorabend seiner Hinrichtung durch die Schergen Hitlers.

Und auch den Clinch mit Hannah Arendt lässt Han versöhnlich ausklingen: „Das menschliche Dasein verwirklicht sich allein in der vita composita, nämlich im Zusammenwirken von vita activa und vita contemplativa“. 

Nützliche Hinweise: 

Das Trost-Buch von Jean-Pierre Wils ist in Kooperation mit dem Museum für Sepulkralkultur in Kassel entstanden. Dort findet noch bis zum 17. September 2023 die Sonderausstellung „Trost – Auf den Spuren eines menschlichen Bedürfnisses“ statt. Sepulkralkultur umfasst die Kultur des Todes, des Sterbens, des Bestatten sowie des Trauerns.

Mehr Informationen über das Kasseler Museum im Internet: https://www.sepulkralmuseum.de/

Jean-Pierre Wils, Warum wir Trost brauchen – Auf den Spuren eines menschlichen Bedürfnisses, S. Hirzel Verlag, Stuttgart 2023, 175 Seiten; 22 Euro

Byung-Chul Han, Vita Contemplativa oder von der Untätigkeit, Ullstein Buchverlage, Berlin; 127 Seiten, 22,99 Euro, außerhalb Deutschlands 23,70 Euro

 

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