Wer an belgischen Jugendstil denkt oder an die Architektur der Moderne, denkt unwillkürlich an Brüssel. Namen wie Hankar, Horta, Blérot oder Strauven fallen im Kontext der Stadtbaukunst der ersten beiden Dekaden des 20.Jahrhunderts. Dass die genannten Architekten auch außerhalb Brüssels tätig waren, wird zumeist übersehen. Insbesondere in den Stadterweiterungsgebieten jenseits der mittelalterlichen Kerne finden sich, so auch in Tournai, erwähnenswerte Architekturentwürfe in Art nouveau.
Dazu kommen Beispiele für die Architektur der Zwischenkriegsphase. Das beinhaltet International Style, Art déco und Neues Bauen sowie Expressionismus. Um es vorwegzunehmen – der bekannte Jugendstilbaumeister Belgiens Victor Horta war auch in Tournai aktiv. Die Stadt verdankt ihm den Bau des Museums für schöne Künste. Zudem war ein Schüler Hortas, Gustave Strauven, in der Stadt als Architekt tätig.
Der Bahnhof von Tournai
Ehe wir vom Bahnhof von Tournai aus unsere Architektour unternehmen, soll an dieser Stelle noch einmal kurz auf die Baustile der 1920er und 1930er Jahre eingegangen werden, da die neuen Stadtquartiere entlang der Boulevards oder in Bahnhofsnähe von besonderer Bedeutung waren.
Bauen nach dem Vorbild der Natur, Verwendung edler Materialien, Einsatz von Gusseisen als sichtbares Konstruktionselement, Zierwerk in Form von Muschel- und Peitschenmotiven, Sgraffito mit Abbildungen von Schwänen, Raben, Fledermäusen, Eulen oder floralen Motiven – das sind die Merkmale der Art nouveau. Weniger beschwingt jedoch ist der vorherrschende Baustil der 1920er und 1930er Jahre. Die Architektur wurde in jener Zeit kubisch-geometrisch, verzichtete auf florale Beschwingtheit. Farben wie Schwarz-Weiß, Orange, Gelb und Grün spielen insbesondere in der Art déco eine Rolle. Marmor, Spiegelglas, Tropenholz und Schmiedeeisen finden ihren Eingang in jene Baukunst. Typische Motive als Kunst am Bau sind schlanke Frauenfiguren, stilisierte Rosen, Zickzack-Linien, Spiralen, Regenbogen und Sonnenstrahlen.
Gänzlich auf Bauschmuck verzichtet das Neue Bauen und der International Style. Das Kubische steht im Vordergrund ebenso wie der rechte Winkel und die verspringenden Fassadenelemente. Beton ist der Baustoff schlechthin, bisweilen findet sich eine Verkleidung mit gelblichem, rötlichem oder orangefarbenem Klinker. Glasierte Kacheln in Grün oder grüne Dachpfannen werden als Bauelemente eingesetzt.
Henri Beyaert, einem der wichtigen Architekten des sogenannten Fin de Siècle, ist das Bahnhofsgebäude von Tournai zu verdanken. Backstein und blaugrauer Kalkstein sind die Baustoffe für das beeindruckende Gebäude mit seinem vorspringenden Mittelteil. In diesem ist die halbe Fensterrosette nicht zu übersehen. Müsste man das Bauwerk, das zwischen 1874 und 1879 entstand, stilistisch einordnen, so träfe Neorenaissance wohl am treffendsten zu. Die gefliesten Wände der Gänge zu den Gleisen zieren Arbeiten von Edmond Dubrunfaut, dessen Kunst man sowohl im Wandteppichmuseum von Tournai bewundern kann wie in der Brüsseler Metro-Station Louiza.
Es sei an dieser Stelle eingeschoben, dass das an der Rue l’Enclos Saint-Martin befindliche Museum der Schönen Künste, zwischen 1903 und 1928 erbaut, auf einen Entwurf Hortas zurückgeht. Er schuf einen Museumsbau mit einer Zentraleinheit von der aus verschiedene Galerien gleichsam sternförmig abführen. Es ist eines der Bauwerke Hortas außerhalb seines geliebten Brüssel. Nur noch in Ronse hat sich Horta mit dem Haus Carpentier nochmals jenseits der belgischen Hauptstadt verewigt.
Doch unser Interesse konzentriert sich zunächst auf die Avenue Van Cutsem und die Avenue des Frères Hoeghe unweit des Bahnhofs. Hier steht unter anderem ein beeindruckendes Eckensemble, das Gustave Strauven konzipiert hat. Doch zuvor fällt unser Blick auf eine Lünette mit der Abbildung eines schwimmenden Schwans auf einem See. Über dem dreiachsigen Fenster mit blaugrauer Steinfassung entdecken wir eine graue Ente vor einer welligen Landschaft.
Ins Auge springt zudem der Hufeisenaufsatz im obersten Stockwerk des 1903 erbauten Hauses Avenue Van Cutsem 19. Ähnlich interessant ist auf der Gegenseite – Avenue des Frères Hoeghe – die Fassade des Hauses Nr. 29: Statt rotem Klinker hat man beim Bau glasierte weiße Steine benutzt, Vertikale „Zierbänder“ in gelblich-orangem Klinker durchziehen die ansonsten einheitlich weiße Fassade, in der man einen vorspringenden zentralen Ecker ebenso sieht wie ein Hufeisenfenster unterhalb des Dachabschlusses. Kehren wir in die Avenue Van Cutsem zurück, so stehen wir vor dem von Strauven konzipierten Eck-Ensemble. Stilisierte florale Motive finden man in „Schmuckfeldern“ über den Souterrain-Fenstern. Die steinerne Fassung in blaugrauem Stein weist den sogenannten Peitschenschlag als Teil eines beschwingten Dekors auf. Lagen von weißen, glasierten Steinen und Backsteinen wechseln sich in der Fassadengestaltung ab und lockern damit das Äußere rhythmisch auf.
Es sei darauf hingewiesen, dass weitere Beispiele für die Architektur der Art nouveau in der Avenue de Maire 8, und am Place Victor Carbonelle zu finden sind, die wir uns jedoch nicht anschauen. Statt dessen folgen wir dem Verlauf der Boulevards, an denen teilweise noch die Reste der Stadtmauern zu finden sind.
Unser Weg führt uns schnurstracks zum Boulevard du Roi Albert, um dort die Architektur der 1920er und 1930er Jahre aufzuspüren. „Bullaugen“, vorspringende Gesimse und Mauerwerk in Zierverbund sowie ein bauchiger Vorsprung der ersten Etage prägen die Fassade des Hauses Nr. 20, entstanden 1935. Vom gleichen Architekten stammt das Haus Nr. 16, das durch seine gelblich-bräunliche Klinkerfassade und seine weißen Balkonfronten auffällt. Zu verdanken sind beide Wohnhäuser dem Architekten Georges Bariseau (1906-1990). Glasierte grüne Ziegel bedecken Teile des Daches eines anderen Hauses in der gleichen Straße. Zudem gliedern Fliesen als horizontale Bänder zwischen den Geschossen die Fassade. Dabei springen diese Geschosse leicht aus der Fassadenfront. Übrigens, mit dem Haus Boulevard du Roi Albert 68 stößt man auf ein Art-noveau-Wohnhaus mit filigran gearbeiteten gusseisernen Balkongittern.
Auch in den abgehenden Nebenstraßen findet man Beispiele für modernes Bauen, hier ein spitzer flacher Erker, der aus der dunkelroten Backsteinfassade springt, dort, in der Rue General Rucquoy, eine hellrote verspringende Fassade, in der die Fenster mit Lagen hellgrüner Fliesen gerahmt sind. Aufgesetzte Halbsäulchen und vertikale Mauerbänder sowie schmale, die Vertikale unterstreichende Fenster prägen das Aussehen eines Hauses in der Rue de Fontenoy.
Dieser kleine Architekturexkurs mag genügen, ehe wir uns wieder in Richtung Grand Place aufmachen und dabei auch den Parc Communal mit dem Naturkundemuseum und dem Museum der Schönen Künste besuchen. Unweit des Kunstmuseums stoßen wir auf das, was von der einstigen Abtei Saint-Martin (1671-1801) noch besteht, sowie einem weiteren Beispiel der Architektur in Anlehnung an das Bauhaus. Dabei handelt es sich um Wohnhaus Rue Faucquez 2 mit einer auf Rundsäulen ruhenden Pergola über dem Zugang zum Garten.
Auf einem Teil des Abteigeländes steht in der Rue de l’Enclos Saint-Martin das Haus Pion-Leblanc, dessen backsteinerne „Rippenfassade“ über „Feldsteinsockel“ sowie die Verwendung von Bruchsteinverband im Seitengiebel ein Hingucker für Architekturliebhaber ist. Entworfen hat dieses Wohnhaus eines Künstlers der Architekt Henry Lacoste.
Ferdinand Dupuis-Panther (Text und Fotos)
letztes JAhr war ich mit meiner Familie auch am Bahnhof vom Tournai. Wirklich ein gemütliches und charmantes Bauwerk.