Von Pascal Arimont MdEP.
Seit Wiederinbetriebnahme der berühmt-berüchtigten Kernreaktoren in Tihange und Doel vergeht keine Woche, in der sie nicht ihrem Ruf der „Bröckel-Reaktoren“ gerecht werden. Von einem Brand an der Schalttafel – wenn auch im nicht-nuklearen Bereich –, über eine Heißwasserleitung, aus der es tropft, bis hin zu Schwierigkeiten mit einer großen Turbine – diese regelrechte Pannenserie führte zunächst im benachbarten Ausland und inzwischen auch im Inland verständlicherweise zu Sorge und massiver Kritik. Auch wenn ein Atomreaktor wesentlich komplizierter ist, als ein Haus oder Autobus, bringt es der Vergleich mit einem maroden Gebäude oder Gefährt ziemlich gut auf den Punkt: Auch hier sind wir am liebsten von den modernsten und sichersten Standards umgeben.
Es liegt in der Natur eines potenziellen Atomunfalls, dass eine solche Katastrophe – wo auch immer sie in Europa geschehen mag (derzeit sind 131 Kernreaktoren EU-weit in Betrieb und es kommen noch neue hinzu) – nicht vor Ländergrenzen halt machen wird. Somit müssen Fragen der Sicherheitsstandards, der Prävention und der Notfallmaßnahmen europäisch beantwortet werden. Derweil ist es aber so, dass jeder EU-Staat, in Anwendung von geltendem EU-Recht, Atompolitik macht, wie er will. Hinsichtlich der Kernenergie bedeutet dies, dass über den Bau oder die Abschaltung von Atomkraftwerken (AKW) nur national und nicht europäisch entschieden wird. In der heutigen Zeit, in der die EU Maßnahmen ergreift, um eine Europäische Energieunion samt eines Energiebinnenmarktes zu schaffen, erscheint diese Handhabe von Atomkraftfragen geradezu rückständig.
Im Zuge der Reaktorkatastrophe von Fukushima im März 2011 beauftragten die Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat die Kommission damit, alle EU-Kernkraftanlagen einer umfassenden Risiko- und Sicherheitsbewertung („Stresstests“) zu unterziehen. Obschon diese Stresstests nicht verbindlich waren, zeigten sie jedoch, dass bedeutende Unterschiede im Hinblick auf das Sicherheitsniveau zwischen den Mitgliedstaaten bestehen, und machten deutlich, dass nur ein gemeinsames EU-Konzept nukleare Sicherheit gewährleisten kann. Der doch sehr allgemein gehaltene und nicht mehr zeitgemäße Euratom-Rechtsrahmen wird diesem Ansatz jedenfalls nicht gerecht, und eine entsprechende neue EU-Initiative fehlt heute leider immer noch.
Genauso wie die Europäische Kommission anstrebt, die Energieversorgung verstärkt gesamteuropäisch anzupacken und sicherzustellen, muss die nukleare Sicherheit eine vollwertige EU-Kompetenz werden. Denn sie gehört unmissverständlich zur Kategorie der großen Dinge, in denen Europa groß sein soll und kann.
Pascal Arimont ist ostbelgischer Abgeordneter für die CSP/EVP zum Europäischen Parlament.
Beiträge und Meinungen