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Streiks und Volkswut: Belgiens heißer Winter

Belgien ist aus den Fugen geraten. 120 000 Menschen demonstrierten vergangene Woche in Brüssel gegen die Sparpläne der neuen Mitte-Rechts-Regierung. Die Protestkundgebung war der Auftakt einer wahren Streikwelle: Für November und Dezember sind weitere Arbeitsniederlegungen geplant, die in den nationalen Streik am 15. Dezember münden sollen. Was sind die Ursachen für die Unzufriedenheit in der Bevölkerung? Worauf müssen wir uns vorbereiten?

Die neue belgische Regierung, die sich aus vier flämischen und einer wallonischen Partei zusammensetzt – auf Seiten Flanderns die N-VA (flämische Nationalisten), die CD&V (Christdemokraten) und die Open VLD (Liberale) sowie auf Seiten der Wallonie die MR (Liberale) –, hat Belgien einen strammen Sparkurs verordnet. Dadurch sollen die Staatsschulden abgebaut und Arbeitsplätze geschaffen werden. Was die Gewerkschaften und vermutlich auch breite Teile der Bevölkerung erzürnt, ist die Tatsache, dass vor allem die Kleinverdiener und die Familien zur Kasse gebeten werden, während die Unternehmen von einem Einfrieren der Löhne profitieren.

Eine durchschnittliche Familie

Eine durchschnittliche Familie soll künftig ca. 360 Euro jährlich weniger zur Verfügung haben, Rentner sogar rund 550 Euro. Gas und Elektrizität sollen 30 Prozent, Wasser soll 10 Prozent teurer werden. Die jährlichen Studiengebühren sollen von rund 550 auf knapp 1000 Euro ansteigen. Die Belgische Bahn büßt Milliarden an Subventionen ein, Fahrkarten für den öffentlichen Nahverkehr sollen teurer werden. Kulturhäuser müssen den Gürtel ansehnlich enger schnallen.

Die Privatunternehmen dagegen profitieren von einer einmaligen Aussetzung der jährlichen Indexierung der Löhne, dem so genannten Indexsprung. Bisher wurden in Belgien die Löhne automatisch an die Verteuerung der Lebenshaltungskosten, sprich, die Inflation angepasst. Für dieses Jahr tritt diese Regelung außer Kraft. Dadurch sollen die Unternehmen in die Lage versetzt werden, zu investieren. Das Ziel ist die Schaffung von 80 000 neuen Arbeitsplätzen.

Die Gewerkschaften, die am 6. November zum Streik aufgerufen haben, sind davon überzeugt, dass die Staatschulden nicht auf dem Rücken der Bürger saniert werden dürfen. Schon heute lebt einer von sieben Belgiern unterhalb der Armutsgrenze. Außerdem sei die Regierung nicht in der Lage, rechnerisch zu belegen, dass tatsächlich 80 000 neue Arbeitsplätze geschaffen würden; dieses vage Versprechen sei reine Augenwischerei.

Steuersparparadies Luxemburg

Unglücklicherweise wurde genau am 6. November bekannt, dass 26 der reichsten Familien Belgiens ihr Vermögen nach Luxemburg verbracht haben, um Steuern zu sparen. Das hat dem Misstrauen vieler Belgier gegenüber der Regierung weitere Nahrung gegeben. Sie stellen sich die berechtigte Frage, ob der finanzielle Freiraum, den die Regierung den Unternehmen mit dem Indexsprung gewährt, tatsächlich in neue Investitionen umgesetzt wird. Ganz davon abgesehen, dass eine Fabrik nicht in wenigen Monaten gebaut werden kann. „Kehrt Ford jetzt plötzlich nach Genk zurück?“, fragte bissig ein Kommentator.

In der Regierung sind derweil erste Risse aufgetreten. Premier Michel scheint mit der Situation überfordert; jedenfalls hat er sich bis jetzt noch nicht öffentlich zur Lage geäußert. Und seine Minister widersprechen einander: Manche scheinen bereit, das Regierungsabkommen nachträglich zu korrigieren, andere wollen keinen Punkt und kein Komma daran verändern. Das Land scheint vorerst noch steuerlos. Unterdessen sind weitere Streiks geplant.

Die Eisenbahner wollen bis zum 23. November punktuell die Arbeit niederlegen. Am 24. November wird in den Provinzen Lüttich, Luxemburg, Limburg und Antwerpen, am 1. Dezember in den Provinzen Namur, Hennegau, Ost- und Westflandern und am 8. Dezember in Flämisch- und Wallonisch-Brabant sowie in Brüssel gestreikt. Am 15. Dezember werden im ganzen Land der öffentliche Nahverkehr, die Bahn, die Häfen und die Großindustrie lahmgelegt. Und auch der Flugverkehr von und nach Zaventem wird vermutlich beeinträchtigt werden.

Der letzte nationale Streik in Belgien fand am 30. Januar 2012 statt. Damals protestierten die Belgier gegen die Sparpolitik von Premier Di Rupo. Im Vergleich zu den aktuellen Sparposten ging es um Kleckerbeträge. Der heiße Winter in Belgien hat gerade erst begonnen.

Marion Schmitz-Reiners

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