Von Friedhelm Tromm.
„Es geht um die Zukunft Europas. Reden Sie mit!“ – dieser Aufforderung waren am 15. November gut 600 Teilnehmer ins Kultur-, Konferenz- und Messezentrum „Triangel“ nach St. Vith in Ostbelgien gefolgt, darunter, ganz vorne dabei, auch Schüler der iDSB.
Den Fragen der Bürger stellten sich keine Geringeren als EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, Oliver Paasch (Ministerpräsident der Deutschsprachigen Gemeinschaft), Karl-Heinz Lambertz (Präsident des Ausschusses der Regionen) und Pascal Arimont (Abgeordneter des Europäischen Parlaments).
Konkrete Probleme des Alltags
Was nur natürlich scheint: Die meisten interessieren sich an diesem Abend für konkrete Probleme, die ihr tägliches Leben betreffen. „Warum“, fragt ein Herr aus der belgischen Eifel, „arbeiten auf den Baustellen der Region Arbeiter aus Moldawien und Rumänien, aber nicht von hier?“. „Warum“, wundert sich ein junger Grenzgänger, der regelmäßig nach Luxemburg pendelt, „kosten Bustickets auf grenzüberschreitenden Linien mehr als auf gleich langen Strecken innerhalb Belgiens?“. „Was gedenkt die Kommission zu tun“, will ein Landwirt wissen, „falls der Milchpreis wieder fallen sollte?“.
Nicht auf alles können die Politiker dabei ebenso konkrete Antworten geben. In der Tat müsse die aktuelle Entsendungsrichtlinie überarbeitet werden, Dumpinglöhne von Leiharbeitern dürfe es nicht geben, ist man sich auf dem Podium einig, doch Löhne und Steuern europaweit zu harmonisieren, erscheint utopisch und wohl auch nicht wünschenswert. Ticketpreise könne man nicht von Brüssel aus regulieren, gibt Karl-Heinz Lampertz zu bedenken, und fügt stirnrunzelnd hinzu: „Leider gibt es gerade bei den Bus- und Bahngesellschaften oft richtige Betonköpfe“. Der Milchpreis sei inzwischen nicht mehr von der EU festgelegt, erinnert Jean-Claude Juncker, auch die Quoten seien aufgehoben, das habe den Markt eben volatiler gemacht, man habe das Problem aber „im Auge“.
Und die großen Fragen der Zukunft
Die Schüler der iDSB interessieren sich eher für die großen Fragen, die ihre Zukunft betreffen, zum Beispiel Fragen der Ökologie. So fragt Schülerin Lilly von Wirén: „Warum gehören Joghurtbecher in Deutschland in die gelbe Tonne, müssen in Belgien jedoch nicht unbedingt recycelt werden?“. Pascal Arimont sieht hier ein grundsätzliches Dilemma der EU: „Wenn wir eine europaweite Richtlinie zur Entsorgung von Joghurtbechern erlassen würden, würde es heißen: ‚Was kümmert ihr euch darum?’. Wenn wir KEINE Richtlinie erlassen, sagt man: ‚Warum kümmert ihr euch NICHT?“. Jean-Claude Juncker nickt zustimmend und meint: „Die Menschen wollen, dass wir uns um die großen Probleme kümmern“. Deshalb habe seine Kommission auch nur 23 Initiativen pro Jahr zugelassen, seine Vorgänger weit über 100.
Schüler Jesse Koßmann will wissen: „Wie soll man mit Großbritannien nach dem Brexit umgehen?“ – „Wenn ich gewusst hätte, dass man mir auch in St. Vith diese Frage stellt – wäre ich nicht gekommen“, reagiert Juncker zunächst süffisant lächelnd, und fährt dann fort: „Wir akzeptieren die souveräne Entscheidung des britischen Volkes, und Großbritannien muss fair behandelt werden. Aber: Nicht wir trennen uns vom Vereinigten Königreich, sondern das Vereinigte Königreich trennt sich von der EU, und eines ist klar: Ein Nicht-Mitglied kann niemals die gleichen Rechte haben wie ein Mitglied.“
Die Meinungen auf dem Podium gehen auseinander
Und Schülerin Elisabeth Ködderitzsch erkundigt sich: „Halten Sie die Entwicklung in Katalonien für eine Gefahr für Europa?“. Offenbar zum ersten Mal an diesem Abend gehen hier die Meinungen auf dem Podium auseinander. Pascal Arimont hält vor allem die Verletzung der spanischen Verfassung durch die spanischen Separatisten für ein Problem. „Wenn das Schule macht, löst sich unsere gesamte Ordnung auf, dann haben wir demnächst zig unabhängige Regionen in Europa, das endet im Chaos“.
Oliver Paasch hingegen kritisiert in erster Linie das Vorgehen der spanischen Zentralregierung. Er hielte es „nicht für klug“, würde man den Katalanen Puigdemont, wie einen Mörder, „für 30 Jahre in den Knast stecken“ – Pascal Arimont mahnt, die Unabhängigkeit der Justiz nicht anzutasten.
Juncker hat hier eine witzige Anekdote parat: „Ich habe meinem Freund Rajoy gesagt, dass es der spanischen Demokratie guttäte, sich an Belgien zu orientieren. Seine Antwort war: ‚Dann erkläre sie mir mal’“.
Damit hat Juncker, wie manches Mal an diesem Abend, die Lacher auf seiner Seite. Viel Beifall erntete er bereits zu Beginn der Veranstaltung, als er angesichts der Flüchtlingskrise mahnte, Europa solle ein Kontinent sein, auf dem Menschen vor Krieg und Vergewaltigung einen Zufluchtsort finden, man dürfe an Probleme nicht nur mit dem Verstand, sondern müsse an sie auch mit dem Herzen herangehen.
Mehr Bürgernähe durch Dialog?
Können Veranstaltungen wie diese den EU-Institutionen zu mehr Bürgernähe verhelfen? Seit Amtsantritt der Juncker-Kommission wurden 312 Bürgerdialoge, seit März 2017 allein 129 „zur Zukunft Europas“, veranstaltet, fast 21 000 Besucher haben bisher daran teilgenommen.
Jedenfalls kann hier jeder seine Fragen stellen, unzensiert, und er wird gehört.
Auch die iDSB-Schüler wussten sich, ohne vor Ehrfurcht vor den Prominenten zu erstarren, Gehör zu verschaffen. Wenn sich noch mehr so für Europa interessieren und engagieren würden wie diese Jugendlichen, müsste einem um die Zukunft der Union nicht bange sein.
Bericht und Fotos: Friedhelm Tromm
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