Von Jan Kurlemann
Belgien, seine Städte und Landschaften oder seine Küste sind nur selten Inhalt von Werken deutschsprachiger Autoren. Jürgen Becker, Träger des Georg-Büchner-Preises der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, ist eine Ausnahme. Ein literarisch interessiertes Publikum von über hundert Personen hatte den Weg zur Hessischen Landesvertretung gefunden, um Becker bei einer Lesung aus seinem neuesten Werk zuzuhören, dem Journalroman “Jetzt die Gegend, damals”, der im Sommer 2015 erschienen ist. Sogar die Küstentram, die “Straßenbahn am Meer”, die von Frankreich fast bis nach Holland fährt, kommt darin vor.
Mit 50 000 Euro ist der Georg-Büchner-Preis dotiert. Becker wurde im Herbst 2014 für sein Lebenswerk ausgezeichnet, in dem er “die Gattungsgrenzen von Lyrik und Prosa beharrlich vermessen hat”. Sibylle Lewitscharoff und Felicitas Hoppe waren Beckers Vorgängerinnen.- Sie haben beide auch in Belgien aus ihren Werken gelesen.
Spiegelung des Autors im Leben seiner Romanfigur
Jörn Winter ist der Doppelgänger, der Beckers Leben lebt, der seine Umzüge mitmacht – aus dem Rheinland nach Thüringen und wieder zurück. Er unternimmt auch einige seiner Reisen. Doch ein richtiger Doppelgänger ist er nicht. Das machte der Autor in seiner Lesung und besonders in der anschließenden Diskussion deutlich.
Er lebt “neben der Spur”, wie an Rückblicken sichtbar wird. Dazu gehören Veränderungen der rheinischen Landschaft, der Handlungsorte, der Partnerinnen und Partner, der Freunde und Begleiter. Das Ganze ist eingebettet in die Geschichte von Krieg und Nachkriegszeit, Kindheit und Jugend und in die Erinnerungen an Anpassung und Opportunismus, weniger an Aufbegehren und Heldenmut.
Irmgard Keun – eine vergessene Schriftstellerin
Irmgard Keun, eine lange vergessene Schriftstellerin der Weimarer Republik, ragt heraus aus dem grauen Menschenstrom der Geschichte. Mit ihrem Roman “Das kunstseidene Mädchen” wurde sie 1932 bekannt. Sie lebte im Dritten Reich im Widerstand und emigrierte dann nach Belgien und Holland. 1940 bis 1945 lebte sie wieder in Deutschland in der Illegalität. Nach dem Kriege konnte als Autorin nicht wieder Fuß fassen. Helmut Becker, damals noch Journalist, näherte sich tatsächlich der Autorin, deren Werke langsam wieder bekannt und neu aufgelegt wurden.
Im persönlichen Gespräch berichtet er davon, wie er es nicht wagte, sie um ein Interview zu bitten. Erst nach ihrem Tode konnte der wirkliche Jürgen Becker ihr trauriges Schicksal mit einem Ende in Verzweiflung und Alkohol zum Thema einer WDR-Rundfunksendung machen. Für die Sendung stellte sich der Autor eine “Imaginäre Reise” nach Ostende vor, wo sich Irmgard Keun 1936 mit anderen emigrierten Autoren wie Joseph Roth, Stefan Zweig und Egon Erwin Kisch aufhielt.
Kontakte des Autors nach Belgien seit 1947
Becker erinnert sich an seine Kontakte nach Belgien, das “nächste Ausland”, seit der “angenehmen” belgischen Besatzung seit 1947 in Delbrück. Lüttich war die erste ausländische Stadt, die er kennenlernte. Als erste Zigaretten rauchte der Halbwüchsige Belga und Boule d’Or aus Belgien. Er übersetzte Briefe zwischen Claude und Sissi, einem belgisch-deutschen Liebespaar. Schokolade, Rotwein und Salami kamen über die Besatzungsmacht ins Rheinland, ebenso wie die ersten Fritten, die der junge Jürgen Becker probierte.
Becker sagt selbst, er habe immer wieder in Belgien Motive für seine Bücher gefunden. Sein Buch liest sich nicht ohne weiteres wie ein Roman. Einzelne Geschichten und Beschreibungen laden zum Verweilen ein, knappe Sentenzen regen an zum Nachdenken. Die Geschichte des Autors und seines “Alter Ego” ist vielfach verschränkt, unterbrochen durch Umzüge und Flucht aus Thüringen. Grundlage bleibt das Rheinland, mit seiner Landschaft und ihren Menschen. Der Autor liebt sie, und er spottet niemals über sie.
Die Veranstaltung fand am 9. Dezember statt. Fotos: Juha ROININEN / EUP-IMAGES und Archiv
Becker, Jürgen
Jetzt die Gegend damals
Berlin 2015
Beiträge und Meinungen