Gleich hinter Aachen, jenseits der belgischen Grenze, im Dreieck der Städte Aachen, Maastricht und Lüttich, liegt das „Herver Ländchen“. Eine landschaftliche Schönheit, touristisch und historisch hoch interessant und – nicht zuletzt – kulinarisch außerordentlich empfehlenswert. Ungeachtet all dessen, freilich, ist dieser Erdenwinkel weitgehend unbekannt. Wer den Weg über die Grenze überhaupt nimmt, braust (als Geschäftsmann, Lobbyist oder Politiker) in der Regel über die Autobahn 4 nach Brüssel. Oder (als Tourist) mit Zwischenstopp in Brüssel (eine Portion der besten Fritten der Welt) an die Küste bzw. weiter westlich nach Frankreich. An das „Herver Ländchen“ wird in beiden Fällen ganz sicher kein Gedanke verschwendet – warum auch?
Welch ein Fehler! Der grüne Zipfel im Westen des kleinen Königreichs bietet sich geradezu an für einen Kurztrip oder einen Wochenendausflug mit Übernachtung. Die Region ist – wie im Land der Flamen, Wallonen häufig der Fall – offiziell zweisprachig: französisch in dem zur Provinz Lüttich gehörenden, niederländisch in dem zu Belgisch-Limburg zählenden Gebiet. Doch beruhigend für den aus dem westlichen Nachbarland einreisenden Gast ist – praktisch jeder Herver Ländler spricht deutsch. Ein Restaurant, in dem der Wirt (nicht selten zugleich ohnehin auch der Koch) dem hungrigen Besucher nicht erklären könnte, was unter „Soße nach Limburger Art“ zu verstehen ist, das gibt es nicht. Und sollte die Marktfrau bei der Suche nach dem genauen Wort für die ganz bestimmte Geschmacksrichtung eines Käses Schwierigkeiten bekommen – nun, dann lässt sie den Fragesteller halt kurzerhand ein Stück probieren.
Womit bereits eine bestimmte Attraktion angesprochen wäre: der Sonntagsmarkt (8 – 13 Uhr) im Städtchen Aubel. Sicher, wenn sich an einem ungemütlichen Herbsttag der Himmel grau zeigt und die nasse Kälte Schuhsohlen und Kleider durchdringt, dann mag auch schon mal der Blick getrübt sein auf die Blumenfülle, das bunte Gemüse-Angebot der lokalen Bauern und die Wurst- und Fleischberge in den Buden. Immerhin, es bleibt ja die Fantasie, um sich auszumalen, wie dieses Bild bei hellem Sonnenschein aussähe.
Wandern auf dem Pilgerweg
Wer gut zu Fuß und fest im Glauben ist, den könnte durchaus das Angebot locken, den Pilgerweg von Aachen in das rund 70 Kilometer entfernte Lüttich in Angriff zu nehmen – zwei Tagestouren für gut konditionierte Wanderer, drei für solche, die es lieber etwas gemütlicher angehen lassen. Wie auch immer, auf jeden Fall sollte genügend Zeit eingeplant werden, um sich ein süffiges Klosterbier und einen Herver Käse zu gönnen. Wobei sich Beides in ordentlich großer Auswahl präsentiert: das Bier als Blonde (eine Art Pils) mit 6 Prozent, Brune (braun) mit 8 Prozent und Triple (also dreifach) mit 9 Prozent. Letzteres erfordert vom Pilger (und nicht nur von diesem), verständlicher Weise, nach dem Konsum die größte Überwindung zum Wiedereinlaufen. Und die Theke mit den regionalen Käsesorten sollte am besten selber durchprobiert werden – vom Magermilchkäse (vergleichbar mit dem Harzer) bis zum würzigen Blauadrigen.
Beides kann man sich natürlich auch in einem der Cafés rund um den Aubeler Markt bestellen. Einen größeren Genuss freilich verspricht der Besuch der nur vier Kilometer entfernten, im idyllischen Tal der Berwinne gelegenen, einstigen Zisterzienser-Abtei Val Dieu (Gottestal) – übrigens einer „Tochter“ des berühmten Klosters Eberbach im Rheingau. Doppelter Genuss deshalb, weil die kulinarischen Verlockungen im angeschlossenen Restaurant verknüpft werden können mit einer Besichtigung der (heute nicht mehr von Mönchen, sondern einer christlichen Gemeinschaft bewohnten) Anlagen, der (freilich spärlich ausgestatteten) Kathedrale und – natürlich – der seit 1997 wieder betriebenen Abteibier-Brauerei. Doch aufgepasst: Für Führungen ist rechtzeitige Anmeldung erforderlich.
Fahrt ins Schwarze
Wir sind in einer Region der kurzen Wege. Was mancher aus Westen kommende Automobilist kurz vor der Lütticher Senke über die Maas auf der rechten Autobahnseite vielleicht schon mehrfach gesehen hat, ist vom Val Dieu wiederum nach nur kurzer Fahrt zu erreichen. Es ist das einstige Kohlebergwerk Blegny, die letzte stillgelegte Zeche aus der einstmals mächtigen Montanindustrie Belgiens. Zusammen mit drei anderen Bergwerken der Wallonie wurde Blegny unlängst in die Liste des UNESCO-Welterbes aufgenommen. Der Besucher wird – ausgestattet mit Helm und Arbeitsjacke – im Förderkorb bis 30 Meter unter Tage gebracht und dann zu Fuß über eine steile Treppe 60 Meter tief geführt. Im Zuge dieser Führung kann er hautnah das harte Leben der Kumpel nachempfinden, den ohrenbetäubenden Lärm eines riesigen Bohrgeräts erleiden, und er bekommt einen nachhaltigen Eindruck von den sozialen Umständen und ethnischen Schwierigkeiten zwischen den vielen Nationalitäten, die einst in vier Migrationsströmen in die belgischen Minen geholt worden waren: Flamen und Polen, Ukrainer und Italiener, Spanier und Russen, Marokkaner und Türken. Am 8. August 1965 waren in der weiter südlich gelegenen Zeche Bois du Cazier bei einer Grubenkatastrophe 262 Menschen ums Leben gekommen. Es wurden Tote aus zwölf Nationen gezählt…
Ein angenehmer Abschluss
Dies sind nur ein paar wenige „Schmankerln“, die das „Herver Ländchen“ schmackhaft machen könnten. Natürlich würde sich auch ein Ausflug in das quirlige, pittoreske Maastricht lohnen oder zum sonntäglichen Flohmarkt in Lüttich. Auf jeden Fall: Nicht hetzen, sondern durchaus einmal übernachten und die regionale Küche genießen, die in dieser Jahreszeit nicht zuletzt mit auf vielerlei Weise zubereitetem Wildschweinbraten aufwartet. Tipps für große Hotels und kleine Landgasthöfe gibt es zuhauf im Internet oder bei den kommunalen Verkehrsverbänden. Und wer einen ganz besonders angenehmen Abschluss seines Kurztrips sucht, dem sei noch empfohlen, entweder über das malerische (wenn auch in seinem Kern leider etwas herunter gekommene) belgische Limburg oder das deutschsprachige Eupen hinauf ins Naturschutzgebiet Hohes Venn zu fahren, dort in der “Baraque Michel” einzukehren und nach den Spezialitäten des Hauses zu fragen.
Text und Fotos: Gisbert Kuhn
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