Von Reinhard Boest
Kurz vor den Wahlen zum Brüsseler Regionalparlament am kommenden Sonntag greift die Zeitung „Le Soir“ noch einmal eines der wichtigsten Reizthemen auf: „Good Move“, das Mobilitätskonzept der noch amtierenden Regionalregierung aus Sozialisten und Grünen. Dabei geht es nicht nur um die Verlängerung der Metrolinie 3 oder die Verkehrsberuhigung in einer großen Zahl von Stadtvierteln. Allerdings hatten gerade diese beiden Projekte für Aufregung oder gar für zum Teil gewaltsamen Widerstand gesorgt. Belgieninfo hat wiederholt darüber berichtet.
Die Wahlen sind für die politischen Parteien Anlass, Bilanz zu ziehen und sich für die künftige Mobilitätspolitik zu positionieren. Was man schon sagen kann: Uneingeschränkte Unterstützung hat „Good Move“ eigentlich nur bei den Grünen, vor allem bei der für Mobilität zuständigen Ministerin Elke Van den Brandt von den flämischen Grünen (Groen), die dieses Amt auch gern nach der Wahl behalten würde. Die oppositionellen Liberalen des MR waren gegen das Projekt. Eine weitgehende Kehrtwende haben die frankophonen Sozialisten unter ihrem Vorsitzenden, dem Bürgermeister von Koekelberg Ahmed Laaouej, vollzogen – obwohl sie als stärkster Partner der Koalition das Projekt von Anfang an mitgetragen haben. Sie reagieren damit offenbar vor allem auf die heftigen Proteste gegen die Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung, die außer in der Innenstadt (innerhalb des „Pentagons“) fast überall entweder auf Eis gelegt oder aber gar nicht erst angegangen worden sind. Im Zentrum scheint die Umwandlung in die größte Fußgängerzone des Landes dagegen angenommen zu sein; jedenfalls möchte man sich Autos auf dem Boulevard Ansbach nicht mehr vorstellen.
Dabei ist „Good Move“ viel mehr als nur Verkehrsberuhigung. Das übergeordnete Ziel ist eine Verringerung der Zahl der Autos in der Stadt um ein Viertel und keine Verkehrstoten mehr bis 2030. Es bedeutet eine Abkehr von einer Verkehrspolitik, bei der das Auto immer mehr von dem knappen öffentlichen Raum in der Stadt einnimmt, ob in Bewegung oder nicht. An vielen Stellen kann man noch immer Spuren der „autogerechten Stadt“ sehen, zu der man Brüssel früher einmal machen wollte. Zum Konzept gehören auch die Einführung von Tempo 30 in der ganzen Stadt (außer auf Hauptverkehrsstraßen) Anfang 2021, die Verringerung des Parkplatzangebots und der Ausbau des Angebots im öffentlichen Nahverkehr (neue Tram- und Buslinien, neue Fahrzeuge, Verdichtung der Fahrpläne) und schließlich auch „sanfte Verkehrsmittel“ wie Fahrräder oder Roller. Das Projekt wurde 2020 mit einem europäischen Preis ausgezeichnet. Viele Verkehrsteilnehmer nutzen die Angebote heute auch in verschiedenen Kombinationen, wie etwa der von „Le Soir“ befragte Claus Müller (Leiter der Hamburger EU-Vertretung) bezeugen kann.
Ganz erfolglos war man nicht: Der Anteil des Autos an den Verkehrsleistungen ist von 50 Prozent im Jahr 2000 über 38 Prozent im Jahr 2013 auf 27 Prozent 2023 zurückgegangen. Alle anderen Modi verzeichnen Zuwächse: 2023 wurden 38 Prozent der Wege zu Fuß zurückgelegt, 27 Prozent mit öffentlichen Verkehrsmitteln und zehn Prozent mit dem Fahrrad. Der Anteil der Roller liegt bei unter einem Prozent. Obwohl es in Brüssel im nationalen Vergleich die meisten Verkehrsunfälle pro Kilometer Straße gibt, ist die Zahl der Verkehrstoten deutlich zurückgegangen; waren es 2022 noch 22, waren 2023 nur noch fünf Todesopfer zu beklagen. Tempo 30 scheint für viele Autofahrer immer noch eher den Charakter einer Empfehlung zu haben – dennoch ist nicht zu verkennen, dass in Brüssel langsamer gefahren wird als früher. Auch die Luft ist in Brüssel sauberer geworden. Dazu haben neben einer Modernisierung von Heizungen auch die Verringerung des Autoverkehrs und Einführung der Niedrigemissionszone (LEZ) beigetragen.
Das Bild in der Öffentlichkeit wird aber neben der umstrittenen Verkehrsberuhigung vor allem durch die unendliche Geschichte der Metro 3 bestimmt. Immer neue technische Probleme und die dadurch verursachten unabsehbaren Verzögerungen spielen ebenso eine Rolle wie die unaufhaltsam steigenden Kosten. Inzwischen scheinen nicht nur die Grünen, sondern auch die in den Umfragen auf dem zweiten Platz liegenden Linkspopulisten der PTB/PVDA einen Stopp des Projekts nicht mehr auszuschließen. Nur „Les Engagés“ sind weiter klar dafür, PS und die Liberalen von der MR dann, wenn eine Lösung für die Finanzierungsprobleme gefunden wird, etwa aus europäischen Mitteln oder in einer öffentlich-privaten Partnerschaft.
Vor allem die Sozialisten scheinen – vor dem Hintergrund ihrer schlechten Umfrageergebnisse – Angst vor der eigenen Courage zu bekommen und Autofahrer doch nicht so sehr verärgern zu wollen. Auch eine Verschiebung der Termine, von denen an Autos mit besonders schlechten Abgaswerten nicht mehr in die Stadt dürfen, wird ins Gespräch gebracht. Dabei gibt es durchaus andere Meinungen in der Partei, wie etwa vom Bürgermeister der Stadt Brüssel Philippe Close, der „Good Move“ in seiner Gemeinde weitgehend erfolgreich umgesetzt hat. Auch er ist allerdings der Auffassung, das der Begriff wegen der vielen negativen Assoziationen „verbrannt“ ist.
Wer auch immer nach der Wahl die neue Koalition in der Region Brüssel bilden wird: die Herausforderungen der Verkehrspolitik bleiben, und es müssen Lösungen gefunden werden, auch wenn das Konzept wohl einen neuen Namen bekommen wird. Die wenigsten davon kann die Region allein umsetzen; wegen der vielen Pendler geht es nicht ohne Abstimmung mit Flandern und Wallonien. Das gilt für den Autoverkehr einschließlich einer eventuellen City-Maut ebenso wie für den öffentlichen Verkehr, wo der Ausbau eines S-Bahnnetzes (RER) schon Jahrzehnte dauert und ein Verkehrsverbund nicht in Sicht ist.
Beiträge und Meinungen