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George Minne – Beginn der belgischen Moderne

Der in Gent geborene Bildhauer gilt als der Vorvater der Moderne, obgleich sein Werk bisweilen als symbolistisch einzuordnen ist. Ohne Frage ist Minne jedoch einer der wichtigsten Vertreter der Bildhauerei des Fin de Siècle. Arie Hartog, der Leiter des Bremer Gerhard-Marcks-Hauses, in dem die aktuelle Schau mit mehr als 30 Werken, darunter auch 14 grafischen Blättern, zu sehen ist, hebt in seinem Katalogbeitrag „Einige Beobachtungen und Fragen zu George Minne“ den Einfluss auf das Werk von Wilhelm Lehmbruck hervor und bezeichnet Minne als Bindeglied zwischen Rodin und der Moderne des 20. Jahrhunderts. Minne wurde zu seinen Lebzeiten in kunsthistorischen Aufsätzen, darauf weist Hartog gleichfalls hin, neben Gustav Vigeland als Nachfolger Rodins erwähnt. Welche Anerkennung des künstlerischen Schaffens eines Mannes, der in den 1890er Jahren in Belgien seine größten Erfolge feierte, sich aber anschließend fast einsiedlerisch in die Künstlerkolonie St.-Martens-Latem bei Gent zurückzog!

Insbesondere in der Zeit des 1. Weltkriegs schuf er im walisischen Exil keine plastischen Arbeiten, dafür aber 400 Zeichnungen mit religiösen Themen. Vorherrschend war dabei das Mutter-Kind-Motiv, das auch als „Pietà-Motiv“ anzusehen ist. Das ist nicht weiter verwunderlich, war der Künstler doch zutiefst in seinem katholischen Glauben verwurzelt. Minne war zu seiner Zeit in Deutschland überaus bekannt, war er doch im Jahr 1900 an der Ausstellung der Berliner Secession und 1912 an der Sonderbundausstellung beteiligt. 1903 realisierte er für den Hagener Mäzen Karl Ernst Osthaus das Brunnenprojekt, das bis heute im Karl-Ernst-Osthaus-Museum in Hagen zu bewundern ist. Für die Umsetzung des Brunnens konnte er auf die Unterstützung des Designers und Architekten Henry Van de Velde setzten, der Minne nach Deutschland holte und mit Osthaus bekannt machte. Van de Velde selbst fand in Deutschland seine wichtigen Auftraggeber wie den Kunstsammler und Mäzen Karl Ernst Osthaus (Villa Hohenhof) und den Chemnitzer Industriellen Esche (Villa Esche), die die künstlerische Karriere und das internationale Ansehen des belgischen Architekten und Designers erst ermöglichten. Noch angefügt werden muss, dass 1905 Minnes Arbeit „Schlauchausgießer“ Eingang in die Sammlung des Bremer Kunstvereins (Kunsthalle Bremen) fand. Es war damit das erste Werk Minnes, das Bestand einer öffentlichen Sammlung wurde.

Ausdrucks-Plastik

Ausdrucksstark sind Minnes bildhauerische Arbeiten, die ein wenig blockhaft erscheinen. Wie kaum einem anderen Bildhauer – sieht man vielleicht von Lehmbruck einmal ab – gelang es Minne, die Befindlichkeit, das Innenleben und den Seelenzustand in eine adäquate Form zu gießen. Seine Arbeiten entstanden in einer Zeit des Aufbruchs, des Weltschmerzes und der Dekadenz. Neben den Mutter-Kind-Darstellungen sind es vor allem die schlanken Knabenfiguren, für die Minne bekannt ist. „Der kleine Verwundete“ und „Der Große Verwundete“ sind als Ausdruck des Lebensschmerzes in Zeiten der Unsicherheit zu deuten. Es sind ausgezehrte, schlanke, ein wenig überlängte Knabenfiguren. Gleichsam zum Selbstschutz haben die Figuren, ihre Arme um den Oberkörper geschlungen. Die Figuren Minnes knien oder stehen breitbeinig auf einem Sockel. Sie scheinen in sich versunken, alleine gelassen in dieser Welt und ihrem Schicksal ergeben. Die Mutterfiguren erscheinen als Beschützerinnen ihres Kindes. Wenn auch formal völlig unterschiedlich, so erinnern diese Arbeiten im Motiv an die von Kollwitz geschaffenen Mutter-Kind-Darstellungen. Ob die Ausdrucksstärke der Skulpturen allerdings Minne zu einem „neuen Gotiker“ macht, der das Postulat der Seele wieder eingeführt habe, wie Yvette Deseyve, die Kuratorin des Marcks-Hauses, in einem Beitrag zu Minne anführt, soll dahingestellt bleiben.

Dass für Minnes Arbeiten der Begriff „Ausdrucks-Plastik“ geprägt wurde, scheint im Angesicht der Arbeiten sehr zutreffend zu sein. Nein, Minne hatte keinen Sinn für die Salonkunst, und auch der soziale Realismus seines Landsmanns Constantin Meunier war ihm fremd. Was die Annäherung an Minne erschwert, ist die Tatsache, dass sich die von Minne geschaffenen Figuren einer exakten Interpretation entziehen. Handelt es sich bei den verwundeten Knaben um Opfer des Krieges oder sind sie nur selbstverliebte Knaben, die sich als Brunnenfiguren im Wasser spiegeln, so wie Narziss? Was will er uns mit den drei Gewandfiguren sagen, die den menschlichen Körper erkennen lassen, wenn auch ihre Gesichter im Dunkeln bleiben? Welche Symbolik verbirgt sich hinter diesem Dreigespann? Verbirgt sich in den Mutter-Kind-Figuren die Frage nach der Urangst oder christliche Symbolik?

Sensible Schau

In der thematisch strukturierten Ausstellung – Themen sind unter anderem „Minne in Deutschland“, „Das Motiv der Knienden“ sowie „Figur und Linie“ hat man Zeit zur Kontemplation, da die Schau sensibel aufgebaut ist und auf überbordende Werkfülle verzichtet. Man sieht nicht nur die Studien zum „Schlauchausgießer“, sondern auch die realisierte Skulptur, die sich leicht zur Seite neigt. Man meint gar, sie würde sich leicht aus ihrem Stand lösen, während sie den Schlauch ausgießt. In sich gekehrt und leicht nach vorne geneigt ist der aus Marmor geschaffene „Kleine Kniende“, Teil des bekannten Minne-Brunnens. Der Verzweiflung und ihrem Kummer ist die sitzende Mutter hingegeben, die ihr totes Kind auf ihrem Schoß hält. Sie scheint ihren Schmerz gleichsam hinauszuschreien, betrachtet man ihren nach hinten gelegten, zum Himmel gerichteten Kopf.

Das Thema „Schmerz“ behandelte Minne in weiteren Arbeiten, so auch in „Schmerz“: Zusammengesunken über dem toten Kind sitzt die Mutter da. Ihre Hände hat sie vor ihre Augen gelegt. Sie ist allein mit ihrem Kummer. Zu sehen sind aber auch Adam und Eva, die Minne als kniendes Paar erschuf, und sein breitbeinig dastehender Jüngling, der gen Himmel blickt. Doch warum tut er dies? Ist es sein letztes Aufbäumen, nachdem er von einer Kugel tödlich getroffen wurde? Nicht dem Alter, sondern der Jugend scheint sich Minne in seinen Arbeiten verbunden gefühlt zu haben, denn alte Menschen schuf er nicht, sondern Jünglinge, so wie die im Jahr 1923 entstandene Arbeit „Adolescent II“. Man findet aber auch Badende, weibliche Badende, die sich kniend recken und strecken, so als entsteigen sie gerade wie Aphrodite dem Nass des Meeres. Oder pflegen sie einen neuen Körperkult in Zeiten, in denen das Nacktbaden und die FKK-Bewegung auf dem Vormarsch waren? Zum Schluss: Wer sich mit einem Wegbereiter der Moderne befassen möchte und nicht immer fertige Interpretation erwartet, dem sei die aktuelle Schau besonders ans Herz gelegt.

bis 26. Januar im Gerhard-Marcks-Haus Bremen

Katalog (zweisprachig Dt. / Niederl.), Hg. Gerhard-Marcks-Stiftung, George Minne: Ein Anfang der Moderne, Wienand-Verlag Köln Okt. 2013, ISBN 978-3-86832-190-6, Preis: EUR 29,80

Ferdinand Dupuis-Panther

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