Von Thomas A. Friedrich.
Belgiens Ministerpräsident Charles Michel (MR) macht Belgiens Bürgern nach den verheerenden Terroranschlägen von Paris Mut: „Wir werden die Rechte des Rechtsstaates verteidigen“, bekräftigte er am Donnerstag vor dem Senat seine Entschlossenheit, den Dschihadisten die Stirn bieten zu wollen. In seiner 30minütigen Brandrede kündigte der Regierungschef an, im Staatshaushalt 2016 zusätzliche 400 Millionen Euro für die Terrorbekämpfung einstellen zu wollen. Mit einem 18-Punkte-Plan wolle die belgische Regierung Radikalismus schärfer bekämpfen, Hassprediger härter anpacken, Polizei und Sicherheitsdienste besser ausstatten und ihre Befugnisse erweitern.
Der seit gut einem Jahr amtierende liberale Premier war bisher eher als Leisetreter zwischen den auseinanderdriftenden Landesteilen aufgefallen. Jetzt gibt er sich unter dem Druck des blindwütigen Terrors entschlossen: „Für uns ist klar, dass der Platz für Dschihadisten, die nach Belgien zurückkommen, das Gefängnis ist oder die Fußfessel angelegt wird“. Dafür will er auch die Verfassung ändern, Bürgerrechte beschneiden. Der Applaus auf allen Seiten des Hohen Hauses war ihm gewiss.
Dürfen die Bewohner Belgiens darauf hoffen, dass dieses Mal die Politiker im bis dato allzu nonchalant agierenden Land zwischen Antwerpen, Brüssel, Rostende und Malmedy unter dem Druck der Verhältnisse jetzt endlich Ernst machen mit Recht und Ordnung im Land?
Der Weiße Marsch in Brüssel im Oktober 1996, organisiert als Demonstration von 300.000 Belgiern als Protestbewegung gegen die Schlampereien und Ermittlungspannen von Polizei, Strafverfolgung und Jurisprudenz nach Festsetzung des Sexualverbrechers Marc Dutroux und Bekanntwerden gesellschaftlich weit verbreiteter Pädophilie in Belgien, verbanden die Bürger mit der Hoffnung auf Reformen im Polizeiapparat. Knapp 20 Jahre danach kommen Zweifel auf, ob angesichts der terroristischen Bedrohung im November des Jahres 2015 sich die Polizeistrukturen im dreisprachigen Elf-Millionen-Staat zum Bessern gewendet haben.
Molenbeek – logistische Terrorzelle Europas?
Während Ministerpräsident Michel im Senat die Einheit der Nation beschwört – „Wir werden dem Terrorismus eine Einheitsfront entgegensetzen“ –, haben keine drei Kilometer entfernt vom Senatsgebäude im Zentrum Brüssels marokkanische Händler auf dem Wochenmarkt in Molenbeek wie jeden Donnerstag ihre Stände aufgebaut. Doch unter die vielen eiligen Kundinnen mit Kopftuch im Nieselregen mischen sich in dieser Woche auffallend viele Reporter mit Mikrophonen, Kameras und Fotoapparaten.
Die knapp 100.000 Einwohner zählende Brüsseler Gemeinde am Westrand der europäischen Hauptstadt ist in den Fokus der internationalen Mediengemeinde und Terrorfahnder geraten. Die Drahtzieher, Schläfer, Gefährder und Mörder der Pariser Anschläge mit über 120 Toten – darunter drei Belgier und zwei deutsche Staatsbürger – stammen vom Brüsseler „Mühlenbach“. Sie haben hier seit über einem Jahrzehnt Unterschlupf gefunden und ihr logistisches Hauptquartier genommen. Offenbar unter Ausschluss der Brüsseler Polizeien konnten sie ihre Mordserien im Schatten der größten belgischen Moschee an der Rue Delaunoy ungestört planen und organisieren. Dies ist nicht zuletzt auf die unkoordinierte Arbeit von sechs unabhängigen Polizeipräsidien allein im Großraum Brüssel zurückzuführen. „Die linke Hand weiß nicht was die rechte tut“, werden Kenner der Szene zitiert. Hinzu kommt, dass Flandern sich ebenso wenig wie die Wallonie vom an sich zuständigen Föderalstaat in ihre polizeiliche Arbeit hereinreden lassen wollen.
Kompetenzwirrwarr, sprachliches Babylon
Die belgischen Politiker übertrafen sich in ersten Reaktionen nach der Pariser Terrornacht mit verblüffenden Selbsterkenntnissen. Belgiens Innenminister Jan Jambon räumte im Fernsehen ein: “Wir haben die Lage in Molenbeek nicht mehr unter Kontrolle.” Sie ist eine von 19 selbstständigen Kommunen in der zergliederten und multikulturellen Brüsseler-Hauptstadt-Region. Vierzig Prozent der Einwohner von Molenbeek sind Muslime. Die Gemeinde gilt als Hochburg der islamistischen Szene. Der Top-Terrorist und Molenbeeker Salah Abdeslam wird weiterhin in der Brüsseler Region vermutet und fieberhaft gesucht.
Der belgische Justizminister Koen Geens räumte ein, dass die angekündigten Polizeireformen noch nicht gegriffen hätten. Die flämischen Polizisten und Ermittler verstehen ihre frankophonen Kollegen nicht und dem belgischen Geheimdienst fehlt es an Mitarbeitern, die Arabisch sprechen. Justizminister Koen Geens gab ebenfalls zu, dass erst seit Anfang des Jahres neue Kräfte geschult und eingestellt wurden. Weitere Arbeitsverträge würden noch abgeschlossen. Belgiens Behörden hinken hoffnungslos hinterher.
Premierminister Michel wird sich daran messen lassen müssen, ob er den Worten im Senat, Taten folgen lässt. Gelingt es ihm, die divergierenden Kräfte der seit Jahrzehnten widerstreitenden Landesteile auf eine Linie – zumindest in der Sicherheitspolitik –einzuschwören? Mehr Polizisten, Computer und arabisch-sprechende Ermittler lösen nicht wirklich das Grundsatzproblem der belgischen Malaise: Kompetenzwirrwarr, sprachliches Babylon und subversive Kräfte in der politischen Klasse, die sozialpolitischen Sprengstoff für das Königreich Belgien darstellen.
„Brüssel: Beispiel für organisiertes Chaos“
Kein Land, gerechnet auf die Bevölkerungszahl, weist so viele IS-Kämpfer auf wie Belgien. 500 haben sich angeblich nach Syrien aufgemacht, um sich für den Terror kampferprobt zu machen. 130 potentielle Attentäter sollen inzwischen nach Belgien zurückgekehrt sein. Aber Michels Machtprobe steht erst noch bevor, nicht gegenüber den Dschihadisten, sondern gegenüber den verkrusteten Strukturen Belgiens.
Dem Aufbau eines modernen – zuerst den Bürger schützenden – Rechtsstaat stehen Bürokratie, Zersplitterung und Partikularinteressen der Provinzpolitiker entgegen. Es fehlt am Miteinander der belgischen Politiker. Die terroristische Molenbeek-Szene profitiert und nutzt diese Nische des multikulturellen Molenbeek, wo soziale Kontrolle abhanden gekommen zu sein scheint und die Gesetzeshüter nur nachlässig ihrer Arbeit nachgehen. Leidtragende dieser Gemengelage sind die unbescholtenen Bewohner der Agglomeration Molenbeek, die sich vergeblich nach Normalität ihres Lebens sehnen.
Der sozialistische Bürgermeister von Vilvoorde, Hans Bonte, bringt es auf den Punkt: “Bei Sicherheitsfragen ist Brüssel das perfekte Beispiel für organisiertes Chaos.” Das belgische Dilemma ist offenkundig: In der Brüsseler Hauptstadt-Region mit 1,2 Millionen Einwohnern gibt es sechs Polizeiverwaltungen, in New York hingegen mit rund 12 Millionen nur eine Polizei, spottete ein hochrangiger Regierungsbeamter unlängst im Journalistenkreis. Belgische Kirchtumspolitik verhinderte seit dem Weißen Marsch das Entstehen schlagkräftiger landesweiter Sicherheitsarchitekturen.
Die Molenbeeker Bürgermeisterin Françoise Schepmans klagt daher an: “Bestimmte Dinge kann nur der Gesamtstaat Belgien mit zentralen Organisationen lösen”. Aber die sind im belgischen Parteienspektrum offenbar nicht erwünscht. Dies könnte sich schon bald rächen.
Die von Premier Michel angekündigten Antiterrormaßnahmen im Einzelnen (u.a.):
• Das Budget für die Terrorbekämpfung wird 2016 um 200 Mio. Euro erhöht.
• An den belgischen Grenzen werden intensivere Polizeikontrollen durchgeführt.
• Es werden 520 Soldaten für den Bürgerschutz eingesetzt.
• Hausdurchsuchungen können künftig rund um die Uhr durchgeführt werden (und nicht mehr bis 21 und ab 5 Uhr).
• Syrienkämpfer werden nach ihrer Rückkehr nach Belgien unverzüglich verhaftet.
• Es werden systematische Kontrollen der Registrierung sämtlicher Flugzeugpassagiere und Passagiere von Hochgeschwindigkeitszügen durchgeführt.
• Alle Imams werden gescreent. Hassprediger werden ausgewiesen.
• Staatlich nicht anerkannte Gebetshäuser, Moscheen usw., in denen der Hasspredigten gehalten werden, werden aufgelöst.
• Es dürfen keine anonymen Prepaid-Karten für Handys verkauft werden.
• Webseiten, auf denen Hass gepredigt wird, werden vom Internet entfernt.
• Die Gesetze bezüglich des Ausnahmezustands werden überarbeitet.
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