Von Reinhard Boest
Wenn Niedersachsen in seine Brüsseler Landesvertretung zum Grünkohl einlädt, sind die rund 300 Plätze im Nu ausgebucht. So war es auch in diesem Jahr, und selbst das anhaltende Regenwetter schreckte nicht ab – sturmfeste Niedersachsen und ihre Freunde sind das offensichtlich gewohnt.
Prominente Gäste – auch ohne Stephan Weil
In Vertretung des Ministerpräsidenten Stephan Weil empfing Wirtschaftsminister Olaf Lies die Gäste und kündigte “dreimal Grün” für den Abend an: Jever Pils (grüne Flache), Grünkohl und Günther der Treckerfahrer mit seiner grünen Mütze. Er sei ja normalerweise nur der “Spargel”, spielte er auf das andere niedersächsische Gourmet-Event in Brüssel an, das von ihm ausgerichtete Spargelessen im Frühjahr. Grünkohl sei dagegen MP-Sache, und wenn Stephan Weil nicht durch den zur gleichen Zeit in Berlin tagenden Vermittlungsausschuss gebunden gewesen wäre, hätte er sich den Abend natürlich nicht entgehen lassen.
Lies konnte prominente Gäste begrüßen, darunter die beiden deutschen Botschafter Michael Clauß und Martin Kotthaus, einen ehemaligen und einen amtierenden Kohlkönig (den niedersächsischen Europaabgeordneten David McAllister und den Bundesbank-Vorstand Burkhard Balz) sowie weitere Europa- und Landtagsabgeordnete aus Niedersachsen. Gekommen waren auch der ehemaligen Präsident des Europäischen Parlaments, Hans-Gert Pöttering, und der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft, Michael Hüther, um nur einige zu nennen. Die im nahegelegenen Berlaymont-Glaspalast residierende ranghöchste niedersächsische Europäerin fehlte dagegen.
Für die kulinarische Versorgung sind reihum die niedersächsischen Landkreise zuständig – diesmal der Landkreis Osnabrück, der durch eine umfangreiche Delegation unter der Leitung der Landrätin Anna Kebschull vertreten war. Vor den Verzehr der “Palme des Nordens” und der zugehörigen Beilagen Kassler und Mettwurst (die Sojawurst kam erneut nicht so recht an) hatte das Programm allerdings einige Reden und Grußworte gesetzt. Zum Glück lässt sich Grünkohl gut warmhalten, und die Wartezeit war mit Jever Pils erträglich.
Ein Minister als Grünkohloge
Lies erwies sich als Experte in Sachen Grünkohl. Den gebe es sogar in Kamerun, wo er auch zu medizinischen Zwecken genutzt werde. Genießbar sei er aber nur, wenn er Frost bekommen habe, und das sei ja in Kamerun eher die Ausnahme. Der Minister würdigte die Arbeit der Europaabgeordneten und unterstrich die Bedeutung der Wahl im Juni. Jeder sei aufgerufen, sein Wahlrecht zu nutzen und dafür zu sorgen, dass die demokratischen Parteien stark blieben. Dafür müsse immer wieder deutlich gemacht werden, eine wie große historische Errungenschaft die europäische Einigung sei. Er wandte sich auch dagegen, dass Deutschland von innen schlechtgeredet werde. Es sei ein großes Land, und ein Blick von außen helfe manchmal, das zu erkennen. Er schloß mit dem Toast “Suup di duun und freet di dick, und hool dat Muul vun Politik”. Zumindest Letzteres erfüllte sich nur zum Teil.
Diplomaten können auch launig sein
Wie Minister Lies begann der deutsche EU-Botschafter Michael Clauß – aus Hannover – sein launiges Grußwort mit dem typisch norddeutschen “Moin”. Auch er würdigte den Grünkohl, der eine wohltuende Abwechslung von den sonst bei offiziellen Essen in Brüssel üblichen Speisen darstelle. Er warnte aber davor, dass der Grünkohl in das Getriebe europäischer Regulierung geraten könne, wenn man feststelle, dass er medizinische Wirkungen habe. Möglicherweise könne er dann beim niedersächsischen Grünkohlabend nur noch auf Rezept abgegeben werden. Und eine andere niedersächsischen Spezialität, die “Lüttje Lage”, könnte Opfer einer Kampagne gegen Alkoholmissbrauch werden.
Der Botschafter konnte sich eine kleine Spitze auf die deutsche Verhandlungsführung im Ministrrat nicht verkneifen. Die aktuelle belgische Präsidentschaft praktiziere gerade, was im Inland seit Jahren üblich sei: eine Kompromisssuche bis zum Umfallen. Danach könne eigentlich nur die Position “Ja” oder “Nein” geben – oder eben das “German Vote”. Eine andere deutsche Innovation sei der “Kaffee-Trick”, mit dem man einstimmige Entscheidungen erreichen könne, indem man jemanden kurz auf einen Kaffee aus dem Saal komplimentiere. Es bleibe abzuwarten, ob sich diese beim – einstimmigen – Beschluss der EU-Staats- und Regierungschefs zur Eröffnung von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine von Bundeskanzler Olaf Scholz am ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán erfolgreich erprobte Methode auch in anderen Fällen bewähre. Botschafter Clauß schloss mit einem weiteren norddeutschen Bonmot: “Nicht lang schnacken, Kopp in’n Nacken”.
Die Zukunft liegt in Osnabrück
Landrätin Kebschull nutzte die Gelegenheit, ihren Landkreis ausführlich vorzustellen. “Dem Norden gehört die Zukunft, und vor allem dem Westen davon”, führte sie selbstbewusst aus und verwies auf die große Zahl erfolgreicher und innovativer Unternehmen (von denen einige auch den Abend gesponsort hatten). Sie unterstrich aber auch, dass bei den aktuellen und noch erforderlichen Veränderungen der ländliche Raum entscheidend, ein „game changer“, sei. Das zeige sich gerade bei der Energie: die Windräder stünden auf dem Land, die Leitungen für den Stromtransport führten über das Land, und die Landwirtschaft ernähre auch die Städter. Daher verdienten der ländliche Raum und seine Akteure Anerkennung für ihre Belastungen und Anliegen.
Danach wurde endlich die Suppe und anschließend der Zweck des Abends aufgetischt.
Ein Treckerfahrer teilt aus
Und dann folgte der traditionelle Auftritt von Günther, dem Treckerfahrer, bürgerlich Dietmar Wischmeyer. Zum Glück war er nicht mit seinem Trecker vor der Landesvertretung in der Rue Montoyer im Brüsseler Europa-Viertel vorgefahren; das hätte angesichts der Ereignisse vor drei Wochen auf der nahegelegenen Place Luxembourg möglicherweise zu Missverständnissen geführt.
Wischmeyer, der selbsternannte “Humorfacharbeiter” mit der grünen Mütze, verteilte gewohnt scharfzüngig und im typisch norddeutschen Slang seine Spitzen in alle Richtungen, ausgehend von der Feststellung “Die Welt ist am Arsch, und Niedersachsen ist mittendrin”. Die Politik in Niedersachsen, im Bund und in Europa kam ihr Fett weg, Regierung wie Opposition, Anwesende wie Abwesende. “Das Klima” – “bisher kannten wir nur Wetter” – komme auf dem Hof an. Vielleicht müsse der Landmann demnächst Ananas statt Steckrüben anbauen. Nur dass die Schweine die nicht fressen.
Die Regierung in Berlin fragte der Treckerfahrer, warum sie noch nicht die Scheidung eingereicht habe. Nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch, so Günther, gelte doch eine Ehe nach einem Jahr Streit als zerrüttet. Aber vielleicht habe die Regierung nach Ostern, wenn der Wahlkampf erst für Europa, dann für drei Landtage und dann übergangslos für den Bundestag geführt werde, ohnehin keine Zeit zum Regieren mehr. Dem derzeit beliebtesten Niedersachsen Boris Pistorius (aus Osnabrück!) widmete der Treckerfahrer natürlich auch ein paar Bemerkungen, ebenso der in diesem Jahr in Deutschland stattfindenden Fußball-Europameisterschaft.
Unterdessen warte Ursula von der Leyen darauf, dass sie weitere fünf Jahre an ihrem Green Deal basteln könne. Dass man in Europa angesichts merkwürdiger Entwicklungen in einigen Ländern nur noch die Wahl zwischen Pest und Cholera habe, quittierte Wischmeyer mit dem Appel: am 9. Juni wählen gehen!
Günthers Resümee: “Das Schlimmste, was uns passieren kann, ist, dass PETA die Legehennen befreit, wegen des Klimawandels der Grünkohl keinen Frost mehr kriegt und Ursula von der Leyen nach Niedersachsen zurückkehrt” – aber das sei ja seit der Ankündigung der Kandidatur für ihre eigene Nachfolge nun eher unwahrscheinlich. Sein Rat: “Munter bleiben!”
So war Niedersachsen erneut für einen Abend gefühlt der Mittelpunkt der Welt – oder jedenfalls Europas. Mit der traditionellen Roten Grütze und “Lüttjen Lagen” nach Wunsch klang die Veranstaltung aus.
© Fotos: Bruno Maes
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