Der deutsche Philosoph und Soziologe, Jürgen Habermas (84), hielt am 26. April in der katholischen Universität Löwen (KUL), der ältesten Belgiens, eine kritische Vorlesung über die europäische Verfassung vor dem Hintergrund der Eurokrise. Das Interesse war so groß, dass der größte Hörsaal der Universität nicht ausreichte, um alle Zuhörer unterzubringen, weshalb die KUL das Ereignis im Stadtpark nebenan und einem anderen Hörsaal per Video übertrug.
Der weißhaarige, weise wirkende Professor war auf Bitten des deutschen Botschafters Eckart Cuntz nach Löwen gekommen. EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy, der 1968 in Löwen („meine Universtät“) Philosophie studiert hatte, hielt die Einleitungsrede. Cuntz zeigte sich nach der Lesung beeindruckt. Er sei froh, dass ein solcher „Gigant der Philosophie“ nach Belgien gekommen sei, auch wenn der sich gegenüber der deutschen Regierung kritisch geäußert habe. Kein Wunder: Habermas , der international bekannteste noch lebende deutsche Philosoph, ist das jüngste Kind der neomarxistischen „Frankfurter Schule“ und war Forschungsassistent bei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno.
Es war eine Vorlesung im engsten Sinn des Wortes, die der emeritierte Professor Habermas während einer Stunde abhielt. Er las sein auf Englisch verfasstes Manuskript ab und seine Äußerungen waren nicht nur inhaltlich schwer verständlich (Habermas wurde mit einer Hasenscharte geboren). Die Zuhörer, darunter die meisten Studenten, zollten ihm Respekt und applaudierten laut und lange. Fraglich ist, ob ihr großes Interesse mehr dem Thema „ Demokratie, Solidarität und die europäische Krise“ oder der weltberühmten Person galt.
Europa: nicht nur für die Bürger, sondern auch von den Bürgern
Habermas trat in seiner Rede für mehr Europa ein, aber nicht so wie es gerade unter dem Sachzwang der Eurokrise unauffällig passiert: von oben, d.h. technokratisch, exekutivlastig, marktkonform, ohne dass die Bürger beteiligt würden. Diese Form der Integration bedeute ein Weniger an Demokratie. Das von der EU-Kommission im November 2012 vorgestellte Konzept für eine Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion kritisierte er als zu halbherzig. Darin tritt die EU-Kommission für eine Ausschöpfung der gesetzlichen Möglichkeiten ein, die der Lissaboner Vertrag bietet, und nicht für eine schnelle Änderung desselben. Die supranationale Demokratie werde in diesem Blueprint leider nur als Endziel genannt, so Habermas.
Es sei gefährlich, die Demokratisierung immer weiter in die Zukunft zu verschieben. Eine Technokratie ohne demokratische Wurzeln würde nicht den Bürgerbelangen nach gerechter Einkommens- und Vermögensverteilung, öffentlichen Diensten oder Kollektivgütern gerecht, sondern denen der Finanzmärkte.
Seine Alternative
Und so sieht Habermas Alternative zum „Exekutivföderalismus“ aus: Die Währungsunion muss eine politische Union werden. Das gehe anfangs nur als Kernunion. Länder die draußen bleiben wollen, müssten aber der Änderung der EU-Verträge zustimmen, schlimmstenfalls müsse man die EU neu gründen, und zwar mit den bestehenden Institutionen. Die Idee, dass die Staaten die „Herren der Verträge sind“, müsse aufgegeben werden, ebenso die intergouvernementale Methode, nämlich dass EU-Regierungen einstimmig entscheiden , zugunsten der gemeinschaftlichen, unter Einbeziehung des EU-Parlaments.
Deutschland halte den Schlüssel für das Schicksal der EU in der Hand. Wenn es ein Mitgliedsland gebe, das die Initiative zur Änderung der EU-Verträge ergreifen könne, so sei es Deutschland. Die anderen Länder könnten für ihr Einverständnis, Souveränität abzugeben, von Deutschland finanzielle Solidarität einfordern. Deutschland habe auch eine moralische Pflicht zur Solidarität, weil es aus der gemeinsamen Währung durch gestiegene Exporte und die niedrigen Zinsen für Bundesanleihen in der Krise profitiert habe. Habermas möchte eine Transferunion nach dem Beispiel des Länderfinanzausgleichs in Deutschland.
Und die Klischees
EU-Ratspräsident Van Rompuy weiß, wie schwierig Solidarität einzufordern ist: „In diesem Land kennen wir alle die Klischees auswendig“, sagte er in seiner Einleitungsrede. Die im Norden (Belgiens) gelten als fleißig, die im Süden als faul.“ Solche Klischees würden auch für die EU gelten: Die fleißigen Nordeuropäer, die faulen Südeuropäer.
Autor: Rainer Lütkehus
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