Von Rudolf Wagner.
Zwei alte Leute auf der Bühne; sie sitzen auf Holzstühlen. Der eine, Simon Gronowski, ist 86 Jahre alt und Jude, der mit seiner Religion gebrochen hat und mit dem katholischen Gott sowieso, seit Mutter und Schwester in Birkenau vergast wurden; Koenraad Tinel (*1934), auch Belgier, entstammt einer Hitler hörigen Familie, deren Mitglieder in der Waffen-SS dienten, an der deutschen Ostfront kämpften und Juden aus der Kaserne Dossin zu den Vernichtungszügen nach Auschwitz eskortierten.
Es wird ein bewegter, bewegender Abend – wieder einmal. Die Aktion Sühnezeichen hatte ins Atelier Marcel Hastir zum Gespräch mit den beiden „Botschaftern“, wie sie sich selbst nennen, geladen. Schon seit Jahren umarmen sie sich immer wieder vor Diskussionsgruppen und Schulklassen in ihren Veranstaltungen, die gegen Krieg und Rassenwahn, für Verständnis, Achtung und eben auch – für Vergebung werben.
Simon beginnt vom 19. April 1943 zu berichten und vom Zug, der 1631 Juden nach Auschwitz transportieren sollte. In einem der vielen Viehwagen befanden sich seine Mutter, die Schwester und er selbst. Eine Widerstandsgruppe zwang den Zug zum Halt. Eine Waggontür wurde aufgerissen. Menschen sprangen heraus, flohen, viele wurden erschossen. Simons Waggon wurde von innen geöffnet, dann rollte der Zug wieder an, immer schneller. „Der Zug fährt zu schnell“, rief die Mutter, doch Simon sprang durch die noch offene Tür. Er überlebte den Sturz und die Schüsse.
Koenraad fragt sich heute, wer von den Seinen wohl den kleinen Gronowski zum Zug geleitet haben mag. Beide haben nasse Augen, ohne die Routine von Entertainern zu zeigen. Dass sie sich trafen, sich heute Freunde, ja Brüder nennen, hat lange Jahre nach dem 2. Weltkrieg eine Schülerin (“Simone”) zuwege gebracht. Koenraad wollte den Juden sprechen, der immer wieder mal als Zeitzeuge im Fernsehen oder in Zeitungsinterviews über sein Schicksal berichtet hatte, und sie vermittelte – musikalisch. Koenraad spielte gerade eine Bach-Prelüde, die er einmal mit seiner jüdischen Klavierlehrerin einstudiert hatte, als Simon eintrat und sich danach ans Piano setzte und in Oscar-Peterson-Manier jazzte. Das kann er noch heute.
Simon Gronowski ist wohl der letzte Überlebende aller Insassen aus dem 20. Transport. Er wendet sich gegen das Vergessen: „Wir können unser Leben, unsere Geschichte nicht aus dem Kalender streichen“, sagt er zu Belgieninfo. Sein letztes Buch, an dem Tinel mitgearbeitet hat, trägt den Titel „Endlich befreit. Kein Opfer, kein Schuldiger“ (Enfin libérés. Ni victime, ni coupable). Jüdische Verbände haben ihn wegen dieses Buches kritisiert. „Das geht mich nichts an“ (“Je m’en fous“), sagt er dazu nur.
Und seine Meinung zu Deutschland heute? „Frau Merkel bewundere ich sehr“. Mehr nicht.
Zusätzliche Infos:
Vrienden vor het leven – Koenraad Tinel en Simon Gronowski
https://www.youtube.com/watch?v=8kq-jibztbw
Escaping the train to Auschwitz
Pingback: Belgieninfo – Schwein gehabt – zu Robert Menasses neuem Roman “Die Hauptstadt”
Fuer diese beiden “MENSCHEN” habe ich groesste Hochachtung !!
Zu Edith Cavell habe ich in Belgieninfo einen lesenswerten Beitrag gefunden. http://www.belgieninfo.net/edith-cavell-und-gottfried-benn-der-als-stabsarzt-bei-ihrer-hinrichtung-im-oktober-1915-in-bruessel-zugegen-war
Vielen Dank für diesen Artikel. Es hat mich sehr gefreut zu lesen, dass Simon Gronowski noch aktiv ist.
Vor einigen Jahren habe ich das Buch von Marion Schreiber “Stille Rebellen: Der Überfall auf den 20. Deportationszug nach Auschwitz” gelesen. Frank Schwalba-Hoth erzählte mir später, dass Simon Gronowski, der als 10-Jähriger aus dem gestoppten 20. Deportationszug nach Auschwitz fliehen konnte, noch lebt. Zusammen mit Frank Schwalba-Hoth habe ich dann Anfang 2014 eine sehr gut besuchte Veranstaltung mit Simon Gronowski im Europäischen Parlament gemacht, auf der er seine Geschichte erzählt hat. Das hat mich fasziniert. Simon ist eine der eindrücklichsten Persönlichkeiten, denen ich bisher begegnet bin.
Zu der Gruppe, die den Stopp des 20. Deportationszug nach Auschwitz im April 1943 vorbereitet hatte, gehörten auch die Brüder Youra “Georges” und Alexandre Livchitz. Youra war einer von den dreien, die den Zug gestoppt hatten. Beide Brüder wurden einige Monate später von der Gestapo verhaftet und als Mitglieder des belgischen Widerstands verurteilt und hingerichtet (dass sie mit dem Stopp des Zuges zu tun hatten, wusste die Gestapo allerdings nicht). Beide wurden wenige Tage nacheinander hingerichtet auf dem Erschießungsplatz am ehemaligen nationalen Schießplatz der belgischen Armee. Der stand bei Meiser, dort, wo heute das RTBF-Gebäude steht. Erhalten geblieben ist allerdings der Begräbnisplatz der Hingerichteten, der Enclos des Fusillés. Dort sind auch die beiden Livchitz-Brüder direkt nebeneinander begraben. Die Gräber sind – wie die der vielen anderen an diesem Ort Erschossenen – als Gedenkstätte an den Terror aus zwei Weltkriegen erhalten. Dieser Platz wurde nämlich schon im 1. Weltkrieg von der deutschen Armee als Hinrichtungsplatz genutzt. Das wohl bekannteste Opfer ist Edith Cavell. Sie wurde am 15. Oktober 1915 an diesem Ort hingerichtet und bestattet. Später wurde sie allerdings umgebettet.